"Deutschland 9/11": der Anfang der Krise der westlichen Welt
Der 11. September aus deutscher Sicht: Der bärenstarke Dokumentarfilm zeichnet zunächst die Ereignisse von damals nach und blickt außerdem auf die weitreichenden Folgen.
"Ich habe es so empfunden, dass nach dem 11. September eine Krise auf die nächste folgte und man doch in einer Unsicherheit lebt. Ständig ist man 'on alert'. Was kommt als Nächstes?" Anna Schily, damals 20 Jahre alt und in New York lebend, schildert im Dokumentarfilm "Deutschland 9/11" eine sehr persönliche Wahrnehmung der Welt seit dem 11. September 2001. Ihr 88-jähriger Vater Otto Schily, 2001 verantwortlicher Innenminister im Kabinett Gerhard Schröder, sitzt neben ihr und widerspricht der Tochter sanft, aber bestimmt: "Ich glaube ja leider, dass die Deutschen sehr ängstlich geworden sind. Ich denke, die Welt geht weiter."
Otto Schily, mittlerweile 89 und ein immer noch sehr wacher, in geschliffen klaren Sätzen sprechender Ex-Spitzenpolitiker, ist jedoch der einzige Protagonist in Jan Peters und Daniel Remspergers toll montiertem Dokumentarfilm, der so optimistisch und unbeeindruckt von den Geschehnissen bleibt. "Deutschland 9/11", sicher einer der wichtigsten Doku-Tipps in diesem "Jubiläumsherbst" der Anschläge, leistet im Prinzip zwei große Dinge: zunächst ein Nacherleben dieses Tages aus deutscher Sicht, dann ein Weiten des Blicks auf die Folgen von 9/11 – bis hin zum Abzug der deutschen und aller anderen westlichen Truppen aus Afghanistan in diesem Jahr.
In Hälfte eins orientiert sich der 90-Minüter am Nachzeichnen des Tagesablaufs des 9. Septembers 2001. Er tut dies mithilfe deutscher Nachrichten und Unterhaltungssendungen, sowie rund einem Dutzend Protagonisten, die mit 9/11 aus unterschiedlichsten Gründen zu tun hatten. Es entsteht ein beklemmendes Wiedererleben der Ereignisse von damals: der ruhige Beginn eines vermutlichen "Durchschnittstages" mit herumalbernden Morgenmagazin-Moderatoren und guten Wetteraussichten. Dann die Bilder des brennenden World Trade Centers in New York. War es ein Sportflugzeug? Nein, etwas Größeres. Dann die Unsicherheit: Unfall oder Terror? Nachrichten-Anchorman Ulrich Wickert und sein aus den USA stammender Redakteur erinnern sich an das berufliche Prozedere, ihre Ängste und Sorgen von damals. Schließlich mit dem Einschlag im zweiten Turm die Gewissheit: Hier passiert etwas Schreckliches, eine Zeitenwende. Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg macht die Runde.
Die Filmemacher Jan Peter und Daniel Remsperger haben sehr berührbare und dennoch auf den Punkt analysierende Menschen gefunden, die 9/11 und die Folgen aus ihrer – deutschen – Sicht reflektieren. Darunter Lara Bothe und ihre Mutter. Sie verlieren an Laras drittem Geburtstag den Vater und Mann. Er sitzt in jenem Flugzeug, das – live übertragen in Nachrichtensendungen rund um die Welt – in den Südturm des World Trade Centers stürzt. Es erzählen ein Lufthansa-Pilot, der über dem Atlantik auf dem Weg nach New York von den Ereignissen erfährt, eine deutsche Bloggerin in New York, Politiker wie Joschka Fischer oder Otto Schily und Polizei- und Staatsschutzbeamte in Hamburg, die wenig später von der Entdeckung schockiert sind, dass die Hauptprotagonisten der Anschläge bis vor kurzem eine WG im Süden der Hansestadt bewohnten.
Der Krieg gegen den Terror
Ohne spürbaren Bruch blendet "Deutschland 9/11" schließlich zu einem größeren Bild der Ereignisse und ihrer Folgen auf: "War on terror", NATO-Bündnisfall in Afghanistan, Flüchtlingskrise, Fremdenangst, Aufstieg des Populismus. Ein deutscher Islam-Wissenschaftler bemerkt, dass in jenem Moment, da die USA von Krieg sprachen, klar war, dass man diesen Krieg nicht gewinnen kann – und dass der Terror für sehr lange Zeit bleiben würde. Eine Bundeswehr-Soldatin, früher als Sanitäterin in Afghanistan tätig, resümiert die Jahre dort: man sei voller Idealismus gekommen, wollte helfen, bauen, demokratisch verändern. Doch es folgten: Angriffe, sich verschanzen, schließlich der Abzug und ein Überlassen des Landes den Taliban.
Dass jener Truppenabzug genau 20 Jahre nach den 9/11-Anschlägen die aktuellen Nachrichten befüllt, ist wie eine Bestätigung der Thesen des so persönlich erzählten und doch analytischen Films: 9/11 war eine Zeitenwende für die westliche Welt. Seit den brennenden Türmen von New York leben wir im dauernden Zustand der Unsicherheit, des gebrochenen Friedens, der globalen Dauerkrisen, mittlerweile zusätzlich befeuert von Klimawandel und Pandemie, wie Anna Schily tapfer lächelnd, aber ziemlich angefasst aufzählt. Klar, dass ihr alter Vater dies anders sieht. Der Mann hat sich wohl immer schon als Fels in der Brandung gesehen. Solche Menschen muss es auch geben – denkt man.
Die Protagonisten und Bilder von "Deutschland 9/11" ergeben über 90 dicht erzählte Minuten nicht nur eine äußerst spannende, kluge Dokumentation, sondern erschaffen auch eine zutiefst menschliche, hoffnungsvolle Atmosphäre. Weil die Menschen vor der Kamera in ihren Erzählungen zutiefst berührt sind und es so schaffen, auch die Zusehenden zu berühren. Genau das schaffen nur die allerbesten Dokumentarfilme.
Deutschland 9/11 – Fr. 10.09. – ARD: 22.15 Uhr
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH