Kritik zum Krimi

"Tatort: Videobeweis" – Beischläfer unter Druck

von Eric Leimann

Auf einer Weihnachtsfeier wird ein Mann getötet. Die beiden potenziellen Zeugen hatten Sex – und wurden dabei von einer Kamera auf frischer Tat ertappt.

ARD
Tatort: Videobeweis
Kriminalfilm • 01.01.2022 • 20:15 Uhr

Karaoke, Alkohol, schummriges Licht: Ja, auch in einem Versicherungskonzern lässt es sich feiern. Zu Beginn des Stuttgarter Neujahrs-Krimis "Tatort: Videobeweis" blickt man in viele glückliche Gesichter. Mathematiker Idris Demir (Ulas Kilic) will sich so langsam auf den Weg nach Hause machen, doch er kommt nie an. Am Morgen findet man ihn tot im Foyer seiner Firma, heruntergestürzt aus großer Höhe. Die letzten Zeugen, die etwas gesehen haben könnten, kennen Zusehende dieses Krimis bereits. Kim Tramell (Ursina Lardi), die sich wie der tote Idris Hoffnung auf eine Beförderung macht(e), verbrachte das Ende der Feier im Büro von Chef Oliver Jansen (Oliver Wnuk). Nach dem Verführungsgespräch an der Bar, das vor allem aus Blicken und Gesten besteht, zieht es Oliver und Kim in den "Rückzugsraum" Chefbüro, um miteinander intim zu werden. Was natürlich niemals rauskommen sollte, denn Oliver Jansen ist verheiratet und hat mit seiner Frau (Karoline Bär) ein kleines Kind.

Während der Vernehmung erfahren Oliver und Kim, dass ihr Beischlaf von einer Überwachungskamera gefilmt wurde. Auch das spätere Mordopfer war offensichtlich in der Nähe. Im Zuge der Ermittlungen von Kommissar Thorsten Lannert (Richy Müller) und seinem Kollegen Sebastian Bootz (Felix Klare) geraten die Sex-Abenteurer zunehmend unter Druck. Hat der Mitarbeiter und Konkurrent die beiden gesehen – und wollte sie erpressen? War der Tote gar in die Kollegin verliebt? Während der Chef schwört, sein Sex mit der Mitarbeiterin wäre einvernehmlich und Folge des stimmungsvollen Abends samt Alkoholgenusses gewesen, zeichnet die erfahrene Kim ein anderes Bild: Ihr Chef hätte sie zur Intimität gezwungen und sie letzten Endes nur eingewilligt, um noch Schlimmeres zu verhindern. Auf dem Präsidium schauen sich Lannert und Bootz das "Sexvideo" immer wieder an, um die Zeichen der Beischläfer im Film zu deuten ...

Der erste "Tatort" des neuen Fernsehjahres 2022 ist gleich ein ziemlich guter. Katharina Adler (Buch) sowie Rudi Gaul ("Safari – Match me if you can", Buch und Regie) erschaffen mit ihrem Krimidebüt eine subtile Studie über die Frage: Was ist "einvernehmlicher Sex" und wie sind die Zeichen des beteiligten Mannes und der Frau während des "Liebesaktes" zu deuten?

Der "Tatort: Videobeweis" hätte auch ein schrecklicher Erklärbär-Film über Vergewaltigungsformen, toxische Männlichkeit oder auch Femme fatale-Klischees werden können. Doch aufgrund des brillant schwebenden Plots und der bärenstarken Leistung Ursina Lardis – aber auch Oliver Wnuks – fiebert man bis zum Ende mit und fragt sich, was während der Endlos-Kopulations-Videoschleife tatsächlich passiert ist. Hat Chef Oliver sein "Opfer" mit einem Brieföffner bedroht oder gar verletzt? Wie ist eine unnatürliche Handbewegung zu deuten? Und wohin geht jener Blick, wenn dort eigentlich niemand stand?

Ein bisschen wie im klassischsten aller Video- oder in diesem Falle Fotobeweis-Filme, Michelangelo Antonionis "Blow Up" von 1966, üben sich im "Tatort" Kommissare wie Zuschauende in der Interpretation von Bildern und lernen dabei, wie trügerisch oder zumindest ambivalent das Ganze ist. Sieht man etwas, weil man es sehen will? Reagieren Frauen und Männer unterschiedlich auf dieselben Bilder? Gerade das rein männliche besetzte Stuttgarter "Tatort"-Kommissariat stellt sich diesbezüglich kritische Fragen und holt sich Hilfe bei der jungen Polizeischülerin Stefanie Seiler (Amelie Herres), die neu in ihrer Abteilung arbeitet.

Auch wegen des sehr "erzählenden" und kreativen Soundtracks der jungen Komponistin Verena Marisa ("Das Unwort") sticht der vielschichtige und psychologisch fein gedrechselte Stuttgarter Krimi-Beitrag heraus. Einerseits ist der "Tatort: Videobeweis" in Sachen Plot und Ablauf ein sehr klassischer Krimi. In puncto vielschichtigem Erzählen und kunstvollem Versteckspiel auf vielen Ebenen ist er jedoch sehr viel mehr als das. Die Krimisaison 2022 im Ersten eröffnet überaus stark.

Tatort: Videobeweis – Sa. 01.01. – ARD: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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