Udo Frank recherchierte zum Tankstellen-Mord

"Die ideologischen Barrieren sinken für den sogenannten Mittelstand"

11.04.2022, 08.52 Uhr

Ein Mann erschießt einen Tankstellenmitarbeiter – mutmaßlich, weil dieser ihn zum Maskentragen aufforderte. Journalist Udo Frank ist einer der Autoren der "Story im Ersten" über den Fall. Er spricht im Interview über Radikalisierung im Netz und das Gewaltpotenzial der sogenannten Mitte.

Zwei Jahre nach Beginn der Coronapandemie lautet eine Analyse, dass die Krise die ideologische Spaltung unserer Gesellschaft weiter verschärft habe. Vor allem im Lager der Maßnahmengegner schien sich manch harmloser Bürger plötzlich radikalisiert zu haben. Was sich jedoch zuvor auf Demonstrationen und Online-Gruppen beschränkte, erfuhr im September 2021 eine Zäsur: Zum ersten Mal in Deutschland tötete ein Mensch einen anderen mutmaßlich deshalb, weil er über die Hygienevorschriften frustriert war. Mario N., der sich im Umkreis der Corona-Leugner bewegte, erschoss an einer Tankstelle in Rheinland-Pfalz einen Mitarbeiter, weil dieser ihn gebeten hatte, eine Maske zu tragen.

Die "Story im Ersten: Mord an der Tankstelle" (Montag, 11.04., 22.50 Uhr, ARD) erforscht nun die Ursachen, Hintergründe und Folgen der Tat. Wie konnte Protest in derartige Gewalt umschlagen? Journalist Udo Frank, neben Rainer Fromm einer der Autoren der Dokumentation, über die Erkenntnisse seines Films, Hass im Netz und das Gewaltpotenzial der sogenannten Mitte der Gesellschaft.

prisma: Wie lautet die grundlegende Erkenntnis Ihrer Dokumentation "Mord an der Tankstelle"?

Udo Frank: Ganz offensichtlich gibt es in Deutschland ein sehr aktives Protestpotenzial, das mit den politischen Zuständen nicht einverstanden ist. Bei den Demos und Internetauftritten gegen die Corona-Maßnahmen überschneiden sich übergangslos Kräfte, die die legitime Kritik an staatlichen Maßnahmen vieler Bürger nutzen, um den Staat und unsere Demokratie grundsätzlich infrage zu stellen.

prisma: War der Mord an dem Tankstellenmitarbeiter aus Ihrer Sicht eine Zäsur, was Gewaltbereitschaft von "Maßnahmengegnern" und sonstigen Kritikern der offiziellen Politik angeht?

Frank: Die Ungeheuerlichkeit der Tat war sicher die traurige Spitze einer Ablehnungsentwicklung. Ihr vorausgegangen waren zahlreiche Gewalttaten und Bedrohungen gegen Ärzte, medizinisches Personal und Impfeinrichtungen. Hier ist durch Aggression und vor allem durch im Netz verbreitete Hassnachrichten bereits im Vorfeld ein Gewalt legitimierendes Klima geschaffen worden. Die hierzu ermittelten Zahlen von Straftaten mit Covid 19-Bezug des BKA sprechen da eine eindeutige Sprache.

prisma: Was ergaben Ihre Recherchen in einschlägigen Online-Medien wie Telegram über den Zusammenhang von Coronaleugner-Ideologie und der Tat?

Frank: Erschreckender und menschenverachtender Höhepunkt der im Netz veröffentlichten Posts sind wohl die Unterstützer- und Positivkommentare zur Mordtat. Bei den Claqueuren geht es nicht mehr um "klammheimliche Freude", sondern um Zustimmung zum Mord und offenen Beifall zur Tat. Empathie, Trauer über den sinnlosen Tod eines jungen Menschen – Fehlanzeige. Auch das ist die zynische Spitze. Die breite Basis bilden die Netzaktivisten, die sich geschickt nie offen positionieren, aber immer haarscharf am Rand der Strafwürdigkeit mit Falschmeldungen, einseitigen Darstellungen agitieren. Sie bilden den ideologischen Hintergrund, der letztlich zur Delegitimierung von Staat und Demokratie führt.

prisma: Radikalisieren sich dort auch "normale Bürger" aus der Mittelschicht – und wenn ja: Wie genau geschieht das?

Frank: Ganz sicher radikalisieren sich da auch die sogenannten normalen Bürger. Das geschieht aber als schleichender Prozess. 'Frieden, Freiheit, keine Diktatur', das ist der Slogan, der alle vereint. Die Tatsache jedoch, dass Montag für Montag bis zu 300.000 Menschen ihren Unmut gegen den sogenannten Impfzwang, die Maskenpflicht und so weiter auf die Straße bringen, ist allerdings der gelebte Beweis dafür, dass weder Krieg, noch Unfreiheit oder Diktatur in unserem Land herrschen.

prisma: Sie sprachen mit einigen Demonstranten. Aus welchen Gründen gingen die Menschen denn protestieren?

Frank: Viele Bürger, mit denen ich während der Dreharbeiten auf zahlreichen Demos gesprochen habe, können gute Gründe angeben, warum sie ihren Unmut auf die Straße bringen. Da ist der Veranstaltungsunternehmer, der inzwischen pleite ist und wieder bei seinen Eltern im Kinderzimmer lebt. Da ist die Chefköchin, die ihre Eigentumswohnung nicht mehr finanzieren kann. Und das sind nur zwei Beispiele. Dann gibt es die Fälle, denen es nach wie vor gut geht, die sich aber in ihrer Selbstüberschätzung nichts sagen lassen wollen – die Individualismus leben, immer schon alles besser und genauer als "die da oben" wissen und allem Staatlichen gegenüber mit Misstrauen und Skepsis begegnen. Bei fast allen konnte ich immer wieder mangelndes Verständnis für ein gesellschaftliches Gemeinwohl feststellen. Hier ist dann auch von gesellschaftlicher Solidarität nicht mehr die Rede. Wenn dann eine solche Grundhaltung entsprechend befeuert wird von politisch interessierter Seite, ergibt sich genau die bedenkliche Melange, in der sogenannte normale Bürger auch keine Probleme mehr haben, mit rechtsoffenen Kräften zu marschieren. Gefährlich wird das für die Demokratie, wenn dann in diese mittelständischen Kreise ungefiltert demokratiefeindliches Denken, Rassismus und Antisemitismus einsickern.

prisma: Was bedeutet der Mord also in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang? Steuern wir auf weitere Radikalisierung zu?

Frank: Nach den Erkenntnissen der Exklusiv-Studie des Allensbach-Instituts für diese Dokumentation muss man Alarm geben und kann gleichzeitig beruhigen. Die Dinge sind da etwas differenzierter. Der viel zitierte große Graben, der die Gesellschaft spaltet, sozusagen 50 zu 50, den gibt es wohl nicht. Die große Mehrheit steht zu den Zielen, Inhalten und Grundsätzen unserer repräsentativen Demokratie.

prisma: Aber?

Frank: Aber: Wir haben fast ein Drittel, von dem man das nicht sagen kann. Und das speist sich aus dem sogenannten Mittelstand. Bei näherem Hinsehen zeigt sich dann, dass Ablehnung bei Rechtsaußen fast bei 100 Prozent liegt. Bei Linksaußen ist das ähnlich hoch. 30 Prozent Ablehnung insgesamt – bei einer signifikanten Zahl von Menschen in Deutschland, die Gewalt für legitim halten, ist das dann doch wieder sehr besorgniserregend. Und hier liegt der Hase im Pfeffer. Diese 30 Prozent sind zwar noch eine kleine Gruppe, aber die ideologischen Barrieren sinken für den sogenannten Mittelstand. Die Entwicklung begann mit der sogenannten Flüchtlingskrise, nahm über Pegida Fahrt auf und hat nun im Coronaprotest einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Und ja – es wird radikaler. Der Mord eines Maskenverweigerers kann so politisch sicher als Ausdruck dieser Radikalisierung gewertet werden. Großes Aber – denn nicht jeder, der sich im Netz und auf der Straße radikalisiert oder dort nur mitläuft, ist ein potenzieller Mörder.

prisma: Was bedeutet das für den Mord an der Tankstelle?

Frank: Im konkreten Fall des Mario N. jedoch muss aus diesem Grund deutlich darauf verwiesen werden, dass diese furchtbare Einzeltat nicht nur monokausal als Konsequenz einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung betrachtet werden kann. Hier kamen viele Umstände zusammen, die auch im Täter begründet liegen. Für die Kriminalpsychologin Dr. Ursula Gasch waren das im Zusammenwirken der ideologische Nährboden, eine gewaltlegitimierende Grundhaltung und persönliches Leid im familiären Bereich. Das ist eine mögliche Erklärung, in keinem Fall eine Rechtfertigung.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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