Krimi im Ersten

"Tatort: Wo ist Mike?" – Dranbleiben lohnt sich

von Eric Leimann

Ein fünfjähriger Junge ist verschwunden. Hat gar der neue Freund von Ermittlerin Paula Ringelhahn damit zu tun?  Ein meisterhafter Franken-"Tatort", der seine falschen Fährten anders legt, als es im TV-Krimi üblich ist.

ARD
Tatort: Wo ist Mike?
Kriminalfilm • 16.05.2021 • 20:15 Uhr

Es ist Frühjahr und somit Zeit für einen neuen Franken-"Tatort". Leider nur einmal im Jahr – werden Freunde der ambitionierteren deutschen Krimi-Fernsehkunst bemerken – ermitteln Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) und Felix Voss (Fabian Hinrichs) in jenem Teil Bayerns, in dem das "r" gerollt und aus dem "t" schnell mal ein "d" wird. Sicher, die Kommissare sind zugezogene Hochdeutsche – doch die bisherigen sieben Fälle machen auch Franken zum landesweit herausragenden Platz auf der deutschen Krimilandkarte.

"Wo ist Mike?" beginnt mit falschen Fährten und mehreren Handlungssträngen. Da ist der jugendliche Träumer und Ausreißer Titus (Simon Frühwirth), der offensichtlich Angst hat – und dessen Flucht über Amsterdam schließlich nackt auf einem mittelalterlichen Platz in Bamberg endet. Parallel wird der fünfjährige Mike vermisst – ebenfalls in Bamberg. Seine getrennt lebenden Eltern (Linda Pöppel, Andreas Pietschmann) bemerken erst nach drei Tagen, dass ihr Sohn weg ist. Man dachte, er sei beim jeweils anderen. Mutter und Vater, durchaus wohlhabend, stellen sich dabei als wahre Wüteriche heraus – mit viel Gewaltpotenzial in Richtung des anderen.

Gleichzeitig werden scheinbar private Geschichten der Kommissare erzählt. Paula Ringelhahn wacht glücklich im Bett eines ihr noch fast fremden, aber dafür umso liebevolleren Mannes auf. Klar, ebenfalls in Bamberg. Paulas neue Hals-über-Kopf-Liebe ist der Lehrer Rolf Glawogger (Sylvester Groth), der nicht weit entfernt vom Designerhaus von Mikes Vater wohnt. Als die Ermittler herausfinden, dass er von zwei Schülern der sexuellen Belästigung beschuldigt wird, beginnt für Paula ein persönlicher Albtraum: Kann es sein, dass Rolf etwas mit Mikes Verschwinden zu tun hat? Die Kommissarin beginnt, in der Nacht Rolfs Haus zu durchsuchen.

Es ist gar nicht so einfach, den neuen Frankenfall in ein klassisches Spannungsfeld zu befördern. Ungeduldige Zuschauer könnten ob der ersten zehn Minuten mit unterschiedlichen Handlungssträngen nervös werden. Zumal der Film mit subtilen Verführungen der Wahrheit arbeitet, die der Zuschauer in sein Verständnis der Handlung integrieren muss. Das kann Triviales sein, wie Paulas Ringelhahns frühe Frage an ihren Kollegen, was denn mit Felix Voss' "Honigfrau" wäre. Man erinnert sich: In der letzten Folge "Die Nacht gehört dir" war der Kommissar in einem bezaubernden Kennenlern-Dialog während des Besuchs eines Honig-Marktstandes auf Freiersfüßen unterwegs. "Verlobt" beantwortet Voss die Frage der offen verliebten Kollegin – um nach einer Kunstpause aus dem Off nachzuschieben "schön wär's".

Was ist echt? Was ist Fantasie?

Irritierender ist da schon die Tatsache, dass die Ermittler und auch der Zuschauer schon mal Dinge sehen, deren Wahrheitsgehalt als fraglich einzuschätzen ist. Zum Beispiel einen kleinen Jungen, der im Hause des vermissten Kindes spielt und der sie mit großen traurigen Augen ansieht. Aber ist dieser Junge wirklich da?

Im Laufe der Handlung wird klar, dass man in diesem wunderbar bilderstarken "Tatort" (Kamera: Michael Hammon) bei weitem nicht jeder Szene trauen kann. In "Wo ist Mike?" geht es nicht nur um falsche Geschichten, sondern auch um eine dehnbare Wahrnehmung von Wahrheiten und Verhältnissen zwischen den Protagonisten. Wer liebt oder schädigt hier wen – und wer hat Schuld auf sich geladen? Was sind gute Eltern? Wer ist überhaupt da – und was existiert nur in der Fantasie? Lohnt es sich überhaupt, immer nur auf die faktische Realität zu schauen?

Doch keine Angst, Dranbleiben lohnt sich. Schon bald verdichtet sich diese Geschichte von Drehbuchautor Thomas Wendrich (Grimmepreis für den NSU-Film "Die Täter – Heute ist nicht alle Tage") zu einer hochspannenden Erzählung über Zweifel und Glauben sowie das tragische Scheitern der Menschen beim Versuch, das Richtige zu tun.

Regisseur Andreas Kleinert, der das poetische Krimi-Highlight stark in Szene setzt, hat ohnehin eine tolle Qualitätsbilanz in Sachen "Tatort". Die geniale Münchener Altsurfer-Erzählung "Die ewige Welle" (2019) oder auch der starke Reichsbürger-Film "Freies Land" (2018) gingen zuletzt auf sein Konto. In seinem ersten Frankenfall liefert der 1962 geborene Ostberliner nun auch wieder exzellente Arbeit ab, die weit über den deutschen Krimi-Standard hinausgeht. "Wo ist Mike?" ist so, als träfe der Plot einer ausgefeilten griechischen Tragödie auf einen Mystery-Film von M. Night Shyamalan ("The Village – das Dorf"). Heraus kommt ein vom bärenstarken Ensemble getragenes, emotional fesselndes Krimikunstwerk, das die Untiefen des Menschlichen auslotet. Ein Lob, das nur den allerstärksten Krimidramen gebührt.

Tatort: Wo ist Mike? – So. 16.05. – ARD: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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