"Väter der Türken"

Atatürk und Erdogan: Zwei verfeindete Brüder, ein Ziel

von Andreas Schoettl

Wohin steuert die Türkei? Recep Tayyip Erdogan setzt heute auf den Islam. Dabei hatte der weltliche Gründer Mustafa Kemal Atatürk die Republik doch als säkularisierten Staat nach europäischem Vorbild ausgerufen. Eine Dokumentation vergleicht die beiden "Väter der Türken".

ARTE
Väter der Türken
Dokumentation • 29.10.2019 • 20:15 Uhr

Sie könnten unterschiedlicher kaum sein: Mustafa Kemal Atatürk und Recep Tayyip Erdogan. Auf der einen Seite steht der General und Revolutionär, der im Oktober 1923 eine moderne Türkei als säkularisierten Staat nach europäischem Vorbild ausrief. Auf der anderen Seite findet sich heute ein Staatspräsident, der als reaktionärer Neubegründer und religiöser Aktivist sein Land einer fortschreitenden Islamisierung aussetzt. Beide gelten als "Väter der Türken", wie der Dokumentarfilm des französischen Regisseurs Nicolas Glimois heißt. Bei ARTE ist die sehenswerte Auslotung des kaum überwindbar scheinenden gesellschaftlichen Zwiespalts nun zur besten Sendezeit im Programm.

Zwischen Atatürks und Erdogans Anschauungen scheinen politische Welten zu liegen. Doch in der Gegenüberstellung wird deutlich, dass beide nur eine Motivation eint. "Tatsächlich sind sie wie zwei verfeindete Brüder, die ein Ziel aus zwei gegensätzlichen Richtungen anstreben", bestätigt sodann auch der bekannte türkische Journalist Can Dündar. Es geht um die nationale Größe der Türkei. Atatürk blickte dabei nach Westen. Erdogan sieht sich als rechtmäßiger Führer der islamischen Welt.

"Die türkische Republik wurde aus Angst gegründet. Aus Angst als Nation zerschlagen zu werden und unterzugehen. Dieses Gefühl ist Teil unserer kulturellen DNA. Und meiner Meinung nach der Auslöser für viele reflexartige Reaktionen der Gegenwart", führt Dündar weiter aus. Glimois' Film führt so auch weit zurück in die Geschichte des Landes, als ein sich zunehmend auflösendes Osmanisches Reich Anfang des 20. Jahrhunderts noch als "kranker Mann am Bosporus" galt.

Der Beitrag spart so auch die dunkelsten Kapitel in der Historie der Türkei nicht aus. Sie reichen vom Putschveruch im Juli 2016 gegen Erdogan bis zum Völkermord an den Armeniern. Bis zu 1,5 Millionen Menschen fielen 1915 und 1916 Massakern und Todesmärschen zum Opfer. Hamit Bozarslan, Historiker und Professor der EHESS-Elite-Hochschule in Paris fällt darüber ein trauriges Urteil: "Der Grundbesitz, die Vermögen, die Häuser der Armenier wurden beschlagnahmt. Im gewissen Sinne ist die heutige Türkei auf die Beute aus diesem Genozid gegründet."

ARTE zeigt die umfangreich recherchierte Geschichts- sowie Politdokumentation im Rahmen eines Schwerpunkt-Themas über die Türkei. Ausgangspunkt einer manchmal irritierenden Reise zu einer augenscheinlich gespaltenen Gesellschaft bildet die Frage, wo die Türkei sich denn nun selbst verorte: noch Europa oder doch eher das Tor zum Nahen Osten? Mitverantwortlich dafür, dass das Land sich an diesem Scheideweg befindet, ist in jüngerer Vergangenheit vor allem "Erdogans AKP". Unter diesem Titel hinterfragt die Dokumentation von Osman Okkan und Halil Gülbeyaz ab 21.45 Uhr die Motivationen, Mittel und Ziele der regierenden Partei in der Türkei.

Erneut sind es die Filmemacher Okkan und Gülbeyaz, die ab 22.40 Uhr ein weiteres Phänomen beleuchten: die Gülen-Bewegung! Diese war bis 2016 eine Stütze des Erdogan-Regimes, heute ist sie Staatsfeind Nummer eins. Ihre Dokumentation "Die freundlichen Islamisten?" begibt sich auf Spurensuche. Etwa zu einer radikalen Sekte?

Wie schon im Film "Väter der Türken" kommt ab 23.35 Uhr noch einmal der bekannte Journalist Can Dündar zu Wort. Im Film "Exil Deutschland – Abschied von der Türkei" von 2017 erzählen er und weitere Exilanten, was es bedeutet, allein in einem fremden Land zu leben.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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