(Conchita) Wurst mit neuem Album

"Ich hasse es, im Studio zu sein"

von Fionn Birr

Hätten Sie ihn erkannt? Tom Neuwirth alias Conchita Wurst jetzt alias Wurst ist zurück. Sein drittes Album ist auf den Markt. Der ESC-Gewinner von 2014 setzt 2019 auch im Interview auf bedingungslose Ehrlichkeit.

Schluss mit Glamour! Mit seinem dritten Album "Truth Over Magnitued" stellt sich Tom Neuwirth alias Conchita Wurst neu auf. Keine pompösen Orchesterballaden, extravagante Ballkleider und großen Gefühle mehr, sondern Kurzhaarfrisur, roughe Beats und klare Haltung. Der ESC-Gewinner von 2014 setzt 2019 auf bedingungslose Ehrlichkeit. Zusammen mit dem Produzenten Albin Janoska und der Texterin Eva Klampfer hat sich der 30-Jährige von Erwartungshaltungen und Rollenmustern freigemacht. Beim Treffen in Berlin trägt Neuwirth ein elegantes Jeans-Outfit komplett in Schwarz und wirkt aufgeweckt, locker und zugänglich. "Wurst", so sein aktueller verkürzter Künstlername, ist ganz bei sich selbst. Ein Gespräch über Meditation, Technoraves und Flugzeugabstürze.

prisma: Es heißt, auf dem Weg hierher seien Sie im Fahrstuhl steckengeblieben. Ist das ihre persönliche Hölle?

Thomas "Wurst" Neuwirth: Nein, bin ich nicht. Ich habe mich bei einem anderen Interview einfach verquatscht. Ich glaube, meine persönliche Hölle ist eine Armee an Menschen, die in eine Stadt einziehen.

prisma: Ihr neues Album heißt "Truth Over Magnitude", Wahrheit vor Stärke. Wann haben Sie das letzte Mal gelogen?

Neuwirth: Vor 20 Minuten (lacht). Hey, ich bin Schauspieler! Nein, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal wissentlich gelogen habe. Klar, ich kenne auch diese Alltagsfloskeln, um eine Situation nicht eskalieren zu lassen. Das passiert wahrscheinlich in einer Regelmäßigkeit, die niemandem auffällt, auch nicht mir. Ich finde es aber völlig in Ordnung, aus einem sozialen Gedanken heraus zu lügen, wenn man damit verhindern kann, andere zu verletzen oder weil meine Meinung zu einem Thema nicht unbedingt wichtig ist. Es bringt ja auch nichts, einen Streit vom Zaun zu brechen. Manchmal ist es leichter, abzuwinken und zu sagen: "Ja, okay." Aber das meine ich mit "Truth" gar nicht. Damit meine ich die Wahrheit, die über allem steht. Das Unumrückbare sozusagen.

prisma: Das Album enthält ein Akronym für ihren Spitznamen – "T.O.M". Inwiefern ist das Album eine Demaskierung für Sie?

Neuwirth: Ich glaube, dieses Thema spüre ich mehr inhaltlich, als dass es mit einer Maske zu tun hat. Ich würde es visuell und inhaltlich separieren. Ich bin ein Mensch, der immer die Wahrheit hören will. Ich finde auch gar nicht, dass ich mich mit dem Album final demaskiere. Ich weiß für mich persönlich, wovon jedes Lied handelt, jede Situation habe ich vor Augen. Das liegt auch daran, dass ich alles, was ich tue, in erster Linie für mich mache. Ich freue mich sehr über jeden, der an meiner Welt teilnimmt und in irgendeiner Weise schön findet, was ich da tue. Ich habe aber für mich persönlich verstanden, mich mit allen Stärken und Schwächen zu akzeptieren und mich selbst zu lieben. Ich arbeite an mir und gebe mein Bestes – das ist die Wahrheit, von der ich da spreche. Die Menschen, die mir nahe sind, verstehen vielleicht durch die Songs mehr, was in mir vorgeht. Für den Rest gibt es Musik, die jeder selbst deuten kann, wie er will.

prisma: Sie haben einmal gesagt, dass Ihnen die Rolle der Conchita zu eng wurde. Was unterscheidet den Entscheidungsprozess von "Wurst" im Vergleich zu "Conchita"?

Neuwirth: Ich habe nach dem ESC gedacht, dass Experten besser wissen, was für mich oder Conchita richtig ist. Was ich tun soll, wie ich klingen soll, was ich für Kleidung trage und so weiter. Der ESC war eine Megachance, die ich nicht mit meinem Halbwissen vertun wollte. Ich habe mich also nach den Meinungen anderer gerichtet und in meinem Kopf ein Protokoll zusammengesponnen, das ich heute "die Präsidentengattin" nenne. Die "Präsidentengattin" hat mich aber unglücklich gemacht. Ich wusste nicht mehr, wo ich hingehöre, und alles hat sich für mich eher nach Abarbeiten angefühlt, reines Funktionieren. Es hat eine Weile gedauert, bis ich bemerkte: Wenn da mein Name an der Tür steht, sollte ich auch da drin sitzen.

prisma: Als Künstler stellt man sich ja aber immer in gewisser Weise in den Dienst seines Publikums.

Neuwirth: Früher wollte ich immer berühmt werden, wusste aber nicht womit. Hauptsache in die Öffentlichkeit, egal wie. Deswegen habe ich ja auch Projekte von A bis Z gemacht, sei es Reality-TV, Castingshows, einfach alles. Ich würde das alles auch immer noch genauso machen. Mir wurde heute die Frage gestellt, was ich meinem jüngeren Ich sagen würde. Meine Antwort war: "Gar nüscht". Ich habe ein tolles Leben, also haben wir doch alles richtig gemacht.

prisma: Sie waren jetzt ein paarmal in New York, unter anderem anlässlich des Jubiläums der Stonewall-Proteste. Was haben Sie dort gelernt?

Neuwirth: Ich dachte immer, ich sei viel zu europäisch für L.A. und New York sei meine Stadt. Aber, unter uns gesagt: New York ist schon ganz cool, aber L.A. ist einfach der Hammer! Diese Stadt ist eine einzige Show, und wenn ich etwas kann, dann ist es Show! (lacht)

prisma: Sie hielten auch eine Rede bei der Welt-Aids-Konferenz, wo Sie als "Ikone" angekündigt wurden. Wie gehen Sie mit solchen Begriffen um?

Neuwirth: Ich finde das ein bisschen übertrieben. Ich werde auch manchmal als Vorbild bezeichnet, was ich auch nicht gut finde. Ein Vorbild zu sein, impliziert in meinen Augen Aufopferungsbereitschaft. Ich opfere mich aber für niemanden auf. Ich mache das, was ich mache, weil ich nicht anders kann. Ich sage die Dinge, die ich spüre und glaube, dass ich sie sagen muss. Wäre ich in einer anderen Familie groß geworden mit einer anderen Gesinnung zum Beispiel, würde ich das wahrscheinlich auch authentisch leben. Ich bin froh, dass ich so bin, wie ich bin. Aber wäre ich jetzt zum Beispiel ein erzkonservativer Rechtsanwalt, würde ich mein Leben vermutlich so leben, wie das ein erzkonservativer Rechtsanwalt eben tut und nicht viel darüber nachdenken.

prisma: Ein Song heißt "Satori", ein Begriff aus dem Buddhismus. Welche Rolle spielt Spiritualität für Sie?

Neuwirth: Die Erleuchtung ist mein Ziel. Ich habe mal eine Geschichte gehört, in der jemand in einem abstürzenden Flugzeug sitzt und einfach zu sich selbst sagt: "Ja, okay, das war's. Es war gut, wie es war." Ich versuche jeden Moment in meinem Leben so auszukosten, dass ich im Falle meines Todes sagen kann: "I'm fine with it, es war alles geil!"

prisma: Wie nahe sind Sie diesem Zustand schon?

Neuwirth: An der Erleuchtung? Also, sterben will ich noch nicht (lacht). Nein, so weit bin ich leider noch nicht, dass ich in einem abstürzenden Flugzeug völlig entspannt bleiben würde. Ich würde noch komplett ausrasten.

prisma: Das Album ist weitaus elektronischer gestaltet als Ihre bisherigen Veröffentlichungen.

Neuwirth: Die Musik ist sehr nahe an meinem aktuellen privaten Geschmack. Als ich damals die großen Balladen sang und pompöse Kleider trug, hörte ich zum Beispiel auch nur Sachen wie Celine Dion. Das hat einfach gepasst, das war der Soundtrack meines Lebens. Jetzt ist es ein bisschen rougher.

prisma: "Truth Over Magnitude" verknüpft in gewisser Weise die Musikkultur Wiens, wo Sie immer noch wohnen. Einerseits ist Wien die Stadt des Opernballs, andererseits gab es dort schon immer eine vitale Clubkultur. Waren Sie mal auf einem Rave?

Neuwirth: Was heißt, denn "immer noch wohnen"? Wien ist die schönste Stadt der Welt! Wenn Sie dem "Economist" glauben, ist Wien gerade zum dritten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt worden! Was die Szene dort angeht: Ich war noch nie auf einem Rave. Das muss ich aber unbedingt noch machen, ich bin mir sicher, dass mir das Spaß macht. Ich lebe aber in meiner eigenen Welt. Ich brauche nicht für alles jemand anderen, um gewisse Erfahrungen zu machen. Ganz ehrlich, bei vielen Dingen, die ich mache, habe ich anfangs einfach überhaupt keine Ahnung, wie das geht. Was sind die Codes, was sind die Regeln? – Ich hatte noch nie Regeln.

prisma: Die Single "Trash All The Glam" kann als Zäsur gedeutet werden. Woher kommt dieser Sinneswandel?

Neuwirth: Ich habe mich irgendwann gefragt, warum ich nicht die Musik mache, die ich privat höre. Dann traf ich Gott sei Dank Albin Janoska, der zum Beispiel auch SOHN produziert hat und dieses Genre versteht. Und ich konnte Eva Klampfer, die auch als Lylit auftritt, als Texterin gewinnen. Albin hat mich sofort in diese Elektro-Welt geholt, das war großartig. Hand aufs Herz: Ich kann keine Songs schreiben. Meine Gedanken sind zu einfach, meine Melodien nicht ausgereift genug. Ich schreibe auch kein Tagebuch zum Beispiel. Aber was ich immer mache, ist Dinge aufnehmen. Sounds, Melodien, Phrasen – dann öffne ich Garageband und halte das fest. Daraus ist ein ganzes Archiv entstanden, das ich Albin gab, und er hat basierend darauf, Demos produziert. Er hat meine Stimme zu Samples zerhackt zum Beispiel und, nun ja, einfach Magic gemacht. Auf einmal habe ich mich in dieser Musik wiedererkannt. Dann ging alles ganz leicht.

prisma: Haben Sie durch diese Arbeit das Songschreiben mittlerweile gelernt?

Neuwirth: Ich glaube nicht. Ich habe aber meinen Platz gefunden, wenn es darum geht, Musik zu machen. Der scheint darin zu bestehen, alles, was aus meinem Hirn und Herz tropft, zu dokumentieren. Das sind keine Textzeilen oder Melodien, sondern Momente und meine persönliche Geschichte. Ich bin in einer Position, Musik machen zu können, die ein Teil von mir ist, auch wenn ich rein technisch nur bedingt am direkten Entstehungsprozess beteiligt bin. Ich bin eine Art Katalysator.

prisma: Würden Sie sich dahingehend als Musiker bezeichnen?

Neuwirth: Nein, ich bin kein Musiker. Ich bin Sänger, Schauspieler, Regisseur, Modedesigner, Hairstylist, Make-Up-Artist, Schneider und wenn man möchte, Interpret. Mein Problem mit Musik ist, dass man sie nicht sehen kann. Ich bin aber ein visueller Typ. Alles, was ich sehen kann, kann ich beurteilen und nach meinen Vorstellungen manipulieren und etwas entstehen lassen. Aber bei Musik geht das nicht. Deswegen liebe ich es zum Beispiel auch, Videos zu machen. Ich höre einen Song und habe direkt einen Film im Kopf. Bei meinen Musikvideos bin ich auch der Chef, der alles im Blick behält.

prisma: Ihr Auftreten wird oft als politisch motiviert ausgelegt. In dem Video zu "See Me Now" tanzen Sie beispielsweise in einem rot beleuchteten Fenster, was eine Konnotation zum Rotlichtmilieu nahelegt. War es hier ein Anliegen, zu zeigen, dass auch in diesem Gewerbe Persönlichkeiten stattfinden?

Neuwirth: Danke dafür, das werde ich künftig verwenden (lacht). Eigentlich wollte ich nur zeigen, wie es in meiner Welt aussieht. Das Video zeigt, was ich schön finde und wie ich mich sexy finde. Das war im Grunde die Ausgangslage. Ich liebe es, im Mittelpunkt zu stehen, ich liebe es, angesehen zu werden, und ich liebe es, wenn man mit mir spricht. Das war im Grunde die Idee. Ich liebe meinen Körper auch, ich finde, dass ich extrem heiß aussehe, und ich will, dass das alle sehen. (lacht)

prisma: Stehen sie lieber auf der Bühne oder im Studio?

Neuwirth: Auf der Bühne! Ich hasse es, im Studio zu sein. Man ist da so nah an seinen eigenen Fehlern. Ich reiße mich dann natürlich zusammen und singe den Take immer so, als wäre es der letzte, den ich jemals aufnehme. Aber ich kann es nicht leiden, wenn ich etwas nicht schaffe. Dann könnte ich das Studio zerlegen! Das ist der anstrengendste Teil meiner Arbeit. Ich lasse das aber nicht an den Produzenten aus. Es brodelt nur in mir selbst dabei.

prisma: Vielleicht sollten Sie es mal mit Meditation versuchen.

Neuwirth: Ich bin in vielen Situationen sehr gefühlsbetont, das merkt mein Umfeld dann auch, aber ich bin nicht so aufbrausend. Meditieren habe ich auch schon versucht und betreibe das in unregelmäßigen Abständen. Aber das klappt halt nicht immer.

prisma: Apropos Fehler: Im Vorfeld zu "T.O.M" haben viele Medien über ihre Fitness gesprochen. Wie schwer ist Ihnen die Umstellung in Sachen Sport und Ernährung gefallen?

Neuwirth: Überhaupt nicht. Ich bin sehr eitel und habe nach dem ESC monatelang Zeit auf Flughäfen verbracht, wo man auf die Schnelle einen Happen isst, um in den nächsten Flieger zu steigen. Plötzlich entdeckte ich etwas an meinem Bauch, das ich so nicht kannte. Mein Stylist empfahl mir daraufhin einen Trainer. Als wir angefangen haben zu trainieren, ist mir durch diesen eigentlich wahnsinnig narzisstischem Grund bewusst geworden, was es heißt, seinen Körper zu beherrschen. Ich fand es faszinierend, wie viel Kontrolle man letztlich hat. Ich konnte früher zum Beispiel nicht unabhängig voneinander verschiedene Muskelgruppen anspannen. Das ist auch nicht wahnsinnig wichtig, aber ich tanze unglaublich gern, und die Möglichkeit, mich so flexibel bewegen zu können, ist ein Gewinn. Außerdem sehe ich das auch als Investition in meine Zukunft. Ich hoffe, dass ich diesen Willen, mich fit zu halten, beibehalte. Ich wünsche mir, auch im Alter noch fit zu sein.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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