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Sexismus-Debatte bei Anne Will: Ist Weinstein überall?

von Kai-Oliver Derks

Vier Frauen und ein Mann (85). Kann mit einer solchen Besetzung eine Diskussion zum aktuellen Thema "Sexismus" nutzbringend sein? Nach Sandra Maischberger vor wenigen Tagen versuchte sich auch Anne Will am Sonntagabend mit ihren Gästen an einer Bestandsaufnahme.

Unter der Überschrift "Die Sexismus-Debatte – Ändert sich jetzt etwas?" wurde gefragt nach der Justiz, den Medien, den Machtverhältnissen innerhalb der Gesellschaft und nicht zuletzt auch nach den Klischees über Frauen und Männer. Ein sensibles Thema, das in den Debatten häufig unter mangelnder Differenzierung leidet. Zwischen dem schlimmen Altherrenwitz und der versuchten Vergewaltigung geht es da wild hin und her. Streckenweise auch an diesem Abend in einer Diskussion, die leider stets nur als Reaktion auf aktuelle Ereignisse (heute: Weinstein und Spacey; zuletzt: Brüderle) geführt wird und in den Medien dann auch wieder verschwindet.

Wer war zu Gast?

  • Laura Himmelreich (Chefredakteurin Vice.com Deutschland)
  • Gerhart Baum (FDP, Bundesinnenminister a. D.)
  • Verona Pooth (Moderatorin und Unternehmerin)
  • Ursula Schele (Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt)
  • Heike-Melba Fendel (Künstleragentin und Autorin)

Die Diskussion

Harvey Weinstein, Kevin Spacey, Dustin Hoffman – sie spielten zum Glück nur eine untergeordnete Rolle in der Diskussion. Aber man war sich einig: Hollywood war der Auslöser, vor allem für den Hashtag "Metoo" und in der Folge für eine neu erwachende Debatte zum Thema "Sexismus im Alltag". Künstleragentin Heike-Melba Fendel verwies zu Beginn auf den "Unterschied zwischen Hollywood und dem normalen Leben" und auch auf die andere Rolle der Frau in diesem Millionengeschäft. "Der Feminismus hat Hollywood erreicht."

Ursula Schele vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe zog indes durchaus Parallelen zwischen den Vorfällen in Hollywood und der gesellschaftlichen Realität in Deutschland: "Jede Institution hat einen Weinstein", beklagte sie und nannte Kirchen, Schulen, Polizei, aber auch die Parlamente als Beispiele. "Wir haben eine Kultur, die es ermöglicht, Sexismus durchlaufen zu lassen." Schele formulierte konkrete Ansätze, was zu tun sei und forderte dabei unter anderem mehr Geld vom Staat: "Es gibt kaum einen Bereich innerhalb der Justiz, in dem so wenig Sachverstand herrscht." Es sei höchste Zeit, Richter zur Vorbereitung auf Verfahren zu sexuellem Missbrauch besser fortzubilden. Dass es immer wieder Frauen gebe, die rückblickend die Anzeige gegen den Täter und das damit folgende Verfahren bedauerten, sei eines der wesentlichen Probleme, das viele Frauen davon abhalte, den Missbrauch überhaupt zur Anzeige zu bringen.

Dass eine Öffentlichmachung von sexuellen Übergriffen, ob verbal oder körperlich, eher selten sei, erklärte Verona Pooth auf ihre eigene, unmissverständliche Weise: "Wenn ich danach meine große Klappe aufmache, bin ich vielleicht eine starke Frau, aber eben auch womöglich meinen Job los." Ihr selbst sei nie eine Nötigung widerfahren, die ihr einen seelischen Schaden zufügte, erklärte sie rückblickend, fragte sich dabei aber auch, wie in einem solchen Fall der nächste Schritt aussehe: "Wie erzählt man es seinen Kindern, seinem Ehemann, seinen Freunden?"

"Der Herrenwitz" hieß vor vier Jahren ein Artikel von Laura Himmelreich, damals für den "Stern", dem der Hashtag "Aufschrei" zum einen und zum anderen eine umfassende öffentliche Diskussion folgte. Es habe sich viel getan seither. "Die Debatte wird heute mit einer anderen Ernsthaftigkeit geführt", erklärte die Journalistin mit Blick auf damals, angesprochen auf die Nachhaltigkeit solcher medial eben nur vorübergehend geführten Diskussionen. Mehrheitlich habe man sich 2013 noch gefragt, ob es überhaupt eine sexistische Gesellschaft gebe. Daran bestehe heute kein Zweifel mehr. Auch sie war um konkrete Lösungsansätze bemüht und verwies auf die strukturelle Situation, die Mann und Frau eben nicht gleichstelle in der Gesellschaft. Beginnend bei unterschiedlichen Löhnen für gleiche Arbeit bis hin zur niedrigen Zahl der Frauen im Bundestag.

"Wir müssen Frauen in der Gesellschaft stärken", forderte denn auch Gerhart Baum. "Wir brauchen einen Mentalitätswechsel" – weg von der "Rollenüberblichkeit" des Mannes. Erste Anzeichen einer Neuordnung wollte Heike-Melba Fendel erkannt haben, nachdem sich – anders als vor vier Jahren – in der aktuellen Debatte viele Männer selbst eine zunehmende Verunsicherung zuschreiben. "Das ist ein guter Anfang", konstatierte sie. "Ein guter Zustand, um seine eigene Rolle zu reflektieren." Darüber hinaus sei es an der Zeit, auch über die Definition von Sexualität in der modernen Gesellschaft zu reden: "Was ist Sexualität, wie kann man sie leben, ohne die Rollenbilder des fordernden Mannes und der zögernden Frau zu bedienen?"

Was fehlte an diesem Abend?

Der Mann! Interessant wäre es schon einmal – das Gespräch zwischen den Geschlechtern. Aber auch diesmal kam bei "Anne Will" die männliche Sichtweise auf das Problem zu kurz. Wird es doch vor allem auch eine geschlechtsinterne Aufgabe sein, das vielfach noch anerzogene Prinzip des Patriarchats auch an den Stammtischen durch eine neue Definition der eigenen Rolle in der Gesellschaft zu ersetzen. Die von Felbel angesprochene "Verunsicherung" mag zum Teil auch allzu selbstmitleidig daherkommen. Im Alltag sie aber stellenweise unübersehbar. Nicht über-, sondern miteinander zu reden ohne Vorurteil und ohne zu pauschalisieren, ist schwer, aber notwendig.

Die Erkenntnisse

Auch wenn wie stets bei den Diskussionen zu diesem Thema viel Zeit dafür verwendet wurde, längst bekannte Missstände anzusprechen, wie etwa bei den Frauen in Führungspositionen, so wurden diesmal doch auch eine Reihe klarer Forderungen ausgesprochen – jenseits von Allgemeinplätzen. Ist die Behebung des Missstands vor allem eine politische Aufgabe, wie es Schele formulierte, oder eine gesellschaftliche? Richtig ist sicher beides.

Der Fauxpas des Abends:

Dass Ursula Schele den ehemaligen FDP-Minister Gerhart Baum versehentlich als "Herr Brüderle" ansprach, wurde von dem mit einem entspannten Lächeln beantwortet. Wohl aber musste Baum einräumen, dass er selbst vor vier Jahren, als das Thema "Brüderle" über Wochen in den Schlagzeilen war, Zurückhaltung in der Öffentlichkeit dazu übte. "Es gab damals eine Solidarität in der Partei, über die man sich nicht hinwegsetzen konnte."

Das Zitat des Abends:

"Ich sage voraus, diese Debatte wird nie zu Ende sein." (Baum)

Prognose:

Die Debatte wird zu Ende sein. Jedenfalls die in den Medien, die sich dankbar ihrer bedienen, solange in der Regierungsbildung Stillstand herrscht. In der Gesellschaft indes, in den sozialen Medien ebenso wie im realen Leben wird sie fraglos weitergehen. "Die Sexismus-Debatte – Ändert sich jetzt etwas?" war der Talk überschrieben. Eine Antwort könnte lauten: Es hat sich viel geändert. Doch es ist ein langer Weg.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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