Sebastian Lege: "Wir sind auch selbst schuld, wenn es schlechte Produkte gibt"
Ernährungsexperte Sebastian Lege deckt für das ZDF regelmäßig die "Tricks der Lebensmittelindustrie" auf. Im Interview spricht er darüber, was wirklich passieren muss, damit sich die Menschen endlich gesünder ernähren.
Seit 2016 demaskiert der Koch und Lebensmittelentwickler Sebastian Lege eine gesamte Branche in seiner ZDF-Sendereihe "Die Tricks der Lebensmittelindustrie". Nun zeigt ZDFinfo zeigt am Sonntag, 6. März, einen ganzen Tag lang Dokumentationen, die einen kritischen Blick auf unser Essen werfen. Darunter auch drei Erstausstrahlungen mit Sebastian Lege unter dem Namen "Lebensmitteltricks – Lege packt aus" 21 Uhr). Bereits ab Freitag, 4. März sind sie in der ZDF-Mediathek zu sehen. Unter dem Titel "Fiese Frühstücksfallen" nimmt Lege Cornflakes & Co ins Visier. Luxusprodukte wie Trüffel-Pasta und "Marc de Champagne"-Pralinen baut Sebastian Lege im "Industriestil" nach und entlarvt so "Falsche Feinkost-Versprechen". Wie wenig industrielle Fertigprodukte mit ihren Vorbildern zu tun haben, zeigt er in "Fragwürdige Fertigprodukte". Im Interview spricht der 43-Jährige über Zucker als Bedrohung unserer Gesellschaft, hoffnungsvolle Entwicklungen bei Lebensmittel-Start-ups und er erklärt, was wirklich passieren müsste, damit wir uns gesünder ernähren.
prisma: In Ihren Sendungen können Sie sich sehenswert über die Lebensmittelindustrie und deren Tricks aufregen. Ist Wut der Antrieb für Ihre Arbeit?
Sebastian Lege: Nein, Wut auf die Industrie an sich ist es nicht. Ich habe aber ein Problem mit der bewusst fehlerhaften Kommunikation eines Produktes. Vor allem, wenn es sich um Lebensmittel für Kinder handelt. Meistens finden sich darin wahre Unmengen von Zucker. Das macht mich tatsächlich wütend, denn Kinder können ihre Ernährung selbst nicht steuern.
prisma: Aber sind es nicht meist Eltern, die Kindern "Produkte" kaufen?
Sebastian Lege: Ja, aber auch die lassen sich durch Marketing-Tricks emotionalisieren und manipulieren. Wir kennen die Sprüche von "der Extraportion Milch" oder dem Kalzium-Zusatz für die Knochen. Da hört dann für mich das Verständnis für Verkaufsstrategien auf. Am Ende sind wir jedoch selbst für gute Produkte zuständig – und zwar durch unser Einkaufsverhalten. Entsprechend sind wir auch selbst schuld, wenn es schlechte Produkte gibt, denn wir verlangen sie. Essen muss in unserer Kultur vor allem billig sein. Geld geben wir lieber für eine dicke Karre oder schicke Markenklamotten aus.
prisma: Würden Sie sagen, wer Fertigprodukte kauft, ist immer Tricksern ausgesetzt? Wer aber selbst kocht, befindet auf der sicheren Seite?
Sebastian Lege: Selbst zu kochen, ist immer das Beste. Doch nicht alle haben die Zeit und Muße dazu. Wer sich die Arbeitserleichterung erkauft und noch einen Preis erwartet, der deutlich unter jenem liegt, als wenn man selbst kochen würde, kann sich die Frage selbst beantworten, ob im gekauften Fertigprodukt beste Zutaten drin sind. Natürlich wird dort mit der ein oder anderen chemischen Zutat so getrickst, die das Produkt ungefähr so dastehen lässt, als hätte man es selbst gemacht.
prisma: Sind die Tricks der Lebensmittelindustrie nicht immer ähnliche? Meist geht es doch ums Vortäuschen falscher Tatsachen ...
Sebastian Lege: Man muss wissen, wie es läuft und woran man gute Sachen erkennt. Frischkäse zum Beispiel – niemand ist gezwungen, ein Produkt wie "Philadelphia" zu kaufen, denn es gibt auch echten, guten Frischkäse. Vielleicht aus einer Molkerei aus der Umgebung. Das Problem ist, dass jene, die am meisten tricksen, oft die mit dem größten Marketing-Budget sind. Sie sorgen mit ihrer Werbung und Marktmacht dafür, dass viele ihre Produkte kaufen. Man kann es sich fast schon denken: Wenn viel Werbegeld in ein Produkt fließt, muss an anderer Stelle gespart werden. Meistens eben am Produkt selbst.
prisma: Also sind die bekanntesten oft die schlechtesten Produkte? Zumindest im Fertig-Segment ...
Sebastian Lege: Man kann es nicht verallgemeinern, aber mein Rechenexempel von eben hat natürlich Bestand. Jegliche Werbung fließt in die Produktkosten ein. Es gibt heute aber einen durchaus gegenläufigen Trend: Viele Lebensmittel-Start-ups setzen mittlerweile auf Qualität und Bio. Überhaupt hat sich die Qualität der Lebensmittelprodukte in Deutschland extrem verbessert. Auch deshalb, weil es Aufklärungssendungen wie unsere gibt. Letzte Woche hatten wir 3,1 Millionen Zuschauer, bei YouTube haben wir pro Folge um die eine Million Klicks. Die Themen erreichen die Leute, und dadurch verbessern sich letzten Endes auch die Lebensmittel.
Beim Essen ab und zu sündigen – das ist nicht verwerflich
prisma: Können Sie in Ihrem eigenen Essverhalten noch über fiese Zutaten hinwegsehen?
Sebastian Lege: Na klar. Man darf und muss sich nicht jede Sünde bewusst machen. Auch ich esse ab und zu im Restaurant mit dem goldenen "M" oder kaufe Fischstäbchen, weil ich Lust drauf habe. Essen hat mit Emotionen und Kindheitserinnerungen zu tun, nicht nur mit Vernunft. Beim Essen ab und zu sündigen – das ist nicht verwerflich. Doch die Masse macht's am Ende. Wenn man vorwiegend zu "Convenience"-Produkten greift, sollte man aufpassen. Wer 1,5 Liter Discounter-Cola für 39 Cent kauft, muss wissen, was er tut. Solche Produkte sind für mich ein Verbrechen an der Menschheit. Wie Zucker heute verwendet wird, ist tatsächlich schlimm. Es ist die größte Gesellschaftsdroge, die wir haben.
prisma: Können Sie erklären, warum es so ist?
Sebastian Lege: Zucker ist billig und macht süchtig. Viele Lebensmittel nutzen diesen simplen Zusammenhang. Ich bin Botschafter eines EU-geförderten Projekts, "New Brain Nutrition". Dabei geht es um die Wirkung von Lebensmitteln auf das mentale Gleichgewicht. Wer Zucker isst, will immer mehr davon. Versuchen Sie mal als Zucker-Konsument, von jetzt auf gleich auf Zucker zu verzichten. Sie werden einen klassischen "cold turkey" erleben, also schlimmste Entzugserscheinungen haben.
prisma: Jetzt regen Sie sich aber doch ziemlich auf. Bleiben Sie dabei, dass Sie der Industrie an sich keinen Vorwurf machen?
Sebastian Lege: Es gibt gewisse Dinge, die mich aufregen: Zucker, bewusste Verführung von Kindern sowie ihrer Eltern und das dritte große Thema, über das wir noch nicht gesprochen haben: die Missachtung von Tierwohl! Das sage ich bewusst als jemand, der gerne Fleisch isst. Fleischprodukte zu Dumpingpreisen sind nur möglich, wenn das Tierwohl massiv missachtet wird. Wer ein Kilo Schweinenacken für 2,20 Euro kauft, muss wissen, was er tut.
prisma: Bräuchten wir für bessere Lebensmittel nicht auch schärfere Gesetze?
Sebastian Lege: Auf jeden Fall! Die Gesetzgebung muss beim Thema Lebensmittel mehr tun. Außerdem brauchen wir dringend Aufklärung in Kindergärten und Grundschulen. "Lebensmittelkunde" müsste als Fach auf dem Lehrplan stehen. Man muss Kindern rechtzeitig einen kulinarischen und sensorischen Intellekt beibringen. Wie schmeckt etwas und warum? Wo sind Qualitätsunterschiede? Warum bringt man nicht die neuen tätowierten Rockstar-Köche, die coolen Boys und Girls in die Schulen? In diesem Bereich müsste viel mehr gemacht werden.
Unsere Gesellschaft wird immer dicker, träger und kränker
prisma: Momentan hat man immer noch den Eindruck, dass man mit gesunder Ernährung bei Kindern und Jugendlichen eher als spaßfreier Mahner dasteht. Wie ließe sich das ändern?
Sebastian Lege: Wir müssen das Thema "gutes Essen" emotionalisieren. Der Schlüssel zur guten Ernährung liegt immer in der Prägung der Gesellschaft – und die findet bei Kindern und Jugendlichen statt. Jugendliche schauen sich heute Videos bei TikTok an, in denen andere Jugendliche Massen von ungesundem Essen in sich hineinstopfen. Das ist zurzeit ein Trend. Oder Donut-Ketten, wo es Donuts mit 3.000 Kalorien gibt – was als extrem cool empfunden wird. So etwas ist jetzt "fame" bei den Kids, aber es sind Früchte, die wir Erwachsene gesät haben. Unsere Gesellschaft wird immer dicker, träger und kränker. Palmöl und andere gesättigte Fettsäuren spielen dabei eine wichtige Rolle.
prisma: Glauben Sie, dass sie mit den Tricks der Lebensmittelindustrie noch über eine lange Zeit Sendungen füllen können – oder ist das Thema irgendwann erschöpft, weil die Tricks immer wieder ähnliche sind?
Sebastian Lege: Ich glaube, das Thema erschöpft sich nicht. Es gibt so viele Dinge, die man über Lebensmittel nicht weiß, dass ich noch lange davon erzählen könnte. Außerdem gibt es immer wieder neue Trends. Es wird ja nicht nur bei Produkten aus dem Supermarkt getrickst, sondern auch in der Erzeugung, bei den Rohstoffen. Da gilt es, noch eine Menge Aufklärungsarbeit zu leisten. Damit die Supermärkte das ganze Jahr über mit Bergen von Lebensmitteln in einer Riesenauswahl befüllt sind, muss unsere Erde ziemlich bluten. 3.000 Tonnen Lebensmittel werden pro Jahr in Deutschland weggeworfen. Lebensmittelverschwendung ist ein Riesenthema, mit dem wir uns auch auseinandersetzen müssen. Themen gehen uns so bald sicher nicht aus.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH