Alex Christensen im Interview

"Pop-Kultur braucht Zeit, die wir heute nicht mehr haben"

von Eric Leimann

Mit seiner Techno-Version der Filmmelodie von "Das Boot" rangierte der Hamburger DJ Alex Christensen 1991 drei Monate auf Platz eins der Charts. Heute schreibt er Orchester-Arrangements für 90er-Jahre-Hits und bedient damit eine große Sehnsucht. 

Kaum jemand kennt die musikalischen 90er-Jahre so gut wie Alex Christensen. Als 24-Jährigen katapultierte es ihn dank seiner Idee, aus dem alten Filmhit "Das Boot" eine Danceversion zu mixen, aus seiner Einzimmer-Wohnung in Hamburg-Wandsbek in die große weite Welt der musikalischen Erfolgsproduzenten. Christensen, heute 52, produzierte unter dem Namen U96 zahlreiche Dance Hits, später dann große Stars wie Paul Anka oder Helene Fischer ("Weihnachten") mit Orchester. Das üppige Soundgewand passt nun auch in Christensens Albumreihe "Classical 90s Dance", von der am 1. November bereits die dritte Ausgabe erscheint. Tatsächlich, man glaubt es kaum, funktionieren die alten Hits im Klassikgewand plus Beats verblüffend gut. Die ersten beiden Alben erreichten Top 10-Platzierungen in den deutschen Albumcharts, 2020 tourt Christensen mit seinem Projekt durch die größten Hallen der Republik. Gibt es eine große Sehnsucht nach den 90-ern – und warum?

prisma: Was treibt einen DJ und Dance Music-Produzenten zum Orchestersound?

Alex Christensen: Als ich 1991 "Das Boot" neu aufgenommen habe, hätte ich es schon gerne mit Orchester gemacht. Damals merkte ich schnell: Das kann ich nicht bezahlen. Deshalb blieb es bei synthetischen Streichern. 25 Jahre später habe ich mir zum Jubiläum diesen alten Traum verwirklicht und das Ganze noch mal mit richtigem Orchester aufgenommen. Der Leiter sagte dann zu mir, bei einem Titel würde sich das Buchen des Orchesters eigentlich nicht lohnen, daher haben wir ein paar Stücke mehr aufgenommen. So ist das Projekt "Classical 90s Dance" entstanden.

prisma: Die kommerzielle Dance Music der 90er genießt unter Kritikern nicht den besten Ruf. Was lernt man über Songs wie "Rhythm Is A Dancer", wenn man Orchester-Partituren dafür schreibt?

Christensen: Dass viele Hits tatsächlich sehr ausgefeilte Pop-Kompositionen waren, die zu Recht so erfolgreich waren. Die Lieder der 90-er hatten eine sehr positive Energie. Die bei mir auch wieder sofort entfacht wurde, als ich an ihnen arbeitete.

Wie die 90er-Jahre cool werden könnten ...

prisma: Warum werden die tanzorientierten Stücke jener Jahre dann so oft als "Trash" belächelt?

Christensen: Weil wir vielleicht noch nicht genug Abstand zu ihnen haben. Es ist doch immer dasselbe: Große Popmusik – vor allem, wenn sie erfolgreich ist – kommt den Kritikern in der Zeit ihres Entstehens oft erst mal verdächtig vor. Ich erinnere mich daran, als Anfang der 80-er Abba aufhörten, Musik zu machen – damals galt ihre Musik als oberpeinlich. Das war seelenlose Maschinenmusik nach Schema F und so weiter. Anfang der 90-er nahmen Erasure das Tribute "Abba-esque" auf. Damals begann sich das Blatt zu wenden. Die Leute erkannten, dass die Kompositionen eine außergewöhnliche Qualität hatten. Und heute? Da bewundert fast jeder das Werk von Abba.

prisma: Waren die 90-er – abseits der Musik – eine Zeit mit cooler Ästhetik?

Christensen: Sie sprechen von Styling und Mode? Keine Pop-Ära war nur cool, sondern immer auch ein bisschen lächerlich. Das liegt am stets ein bisschen übertrieben Modischen, das beim Pop und seiner Inszenierung dazugehört. Wenn ich heute alte Bilder von mir aus der Zeit sehe, schäme ich mich für manche auch ein bisschen. Aber das gehört dazu. Auch die 60-er, 70-er und 80-er waren in Teilen ästhetisch albern bis schlimm. Die 90-er werden vielleicht bald wieder cool. Spätestens dann, wenn Tarantino den ersten 90er-Jahre-Film dreht (lacht).

prisma: Können Sie eigentlich ein Orchester leiten, muss man dafür nicht studiert haben?

Christensen (lacht): Ich beschäftige mich seit 2004 mit Orchestermusik. Damals habe ich das Album "Rock Swings" mit Paul Anka aufgenommen. Dafür übersetzten wir große Rocksongs in Swing-Versionen. Ich kann heute sagen, dass ich Orchester verstehe und leiten kann. Ich kann sie auch von meinem DJ-Pult aus dirigieren, und so wollen wir das bei der Tour zum 90-er-Projekt auch probieren. Wenn es allerdings darum geht, Arrangements zu Papier zu bringen, überlasse ich den Job besser Leuten, die sehr gut darin sind. Es war schon immer mein Motto, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die besser sind als ich – um von ihnen zu lernen. So war das auch bei diesem Projekt.

"Heute kann es jahrelang andauernde Trends gar nicht mehr geben"

prisma: War es leicht, die Rechte für die 90er-Hits zu bekommen?

Christensen: Meistens schon. Viele der Komponisten sind Weggefährten von mir. Man kennt sich. Außerdem ist das, was wir tun, ja auch eine Verbeugung vor dem Song. Natürlich gab es ein paar, die wollten das nicht. Aber da lasse ich dann auch ziemlich schnell locker. Wer nicht will, der will nicht. Ich will niemand zu seinem Glück zwingen.

prisma: Ist denn die Reihe der 90er-Hits mit drei Alben abgeschlossen?

Christensen: Ich glaube schon, auch wenn es natürlich noch viele weitere Hits gäbe, die man bearbeiten könnte. Aber ich fand Trilogien schon immer eine runde Sache. Ich bin zum Beispiel großer Star Wars-Fan – und finde, man hätte es auch da bei den ersten drei Filmen belassen sollen.

prisma: Die 90-er waren das Jahrzehnt, als Dance-Subkulturen wie Techno und House plötzlich Mainstream wurden. Gab es dafür einen Urknall? Ein initiales Ereignis, das den Boom auslöste?

Christensen: Es gab keinen Urknall, damals passierte alles viel langsamer. Heute explodieren Trends binnen kürzester Zeit übers Internet und soziale Medien. Damals war es so, dass Dance-Kulturen viele Jahre im Untergrund stattfanden und die Jugendlichen aus der "zweiten Reihe" davon nichts mitbekamen. Als ich 1991 "Das Boot" in der Techno-Version veröffentlichte, war der Titel dann 13 Wochen lang Nummer ein. Die Loveparade wurde immer größer, die Medien berichteten über Rave-Kultur. Es wurde einfach nach und nach immer größer, aber eben viel organischer als heute.

prisma: Waren Techno, House und Tanzkultur der 90-er die letzte große musikalische Jugendbewegung?

Christensen: Ich würde sagen, ja. Heute kann es solche jahrelang andauernden Trends gar nicht mehr geben. Weil sie die Geschwindigkeit des Netzes so schnell nach oben gespült, verbreitet, abgefeiert und dann wieder langweilig werden lässt, dass sich erst gar keine Kultur entwickeln kann. Pop-Kultur braucht Zeit, die wir heute nicht mehr haben.

"Es war ein naives, fröhliches Jahrzehnt"

prisma: Man kann sich auch kaum noch auf einen Trend einigen. Heute hört der eine dies, der andere das – was einerseits wunderbar demokratisch, aber auch ein bisschen langweilig ist. Oder?

Christensen: Ja, man kann das von verschiedenen Seiten betrachten. Auch wenn ich grundsätzlich finde, dass die freie Wahl von Musik ohne Trendpolizei grundsätzlich positiv ist. Aber es stimmt schon, die musikalischen Interessen der Jugendlichen, ach der Menschen sind heute vollständig atomisiert. Damals konnte man mit einer Idee noch Millionen begeistern und zum Beispiel auf der Loveparade gemeinsam tanzen. Es war schon großartig, ein Teil davon gewesen zu sein. Ein Teil dieser großen Begeisterung von ganz vielen jungen Leuten.

prisma: War man damals gemeinschaftsorientierter?

Christensen: Das würde ich nicht sagen. Mein 16-jähriger Sohn ist heute auch sehr gemeinschaftsorientiert, nur dass diese Nähe eben in digitalen Räumen stattfindet. Damals hatte man keine andere Chance als rauszugehen, wenn man Teil von etwas sein wollte. Wenn man neugierig war, was es Neues gab oder bestimmte Musik suchte. Dann musste man in den Club, zum Rave oder in den Plattenladen, um diesen Sound zu kriegen. Heute kann man sich alles in Sekunden auf den Computer holen und mit anderen übers Netz darüber diskutieren. Lust auf Kommunikation, auf menschlichen Austausch, haben Menschen aber immer – damals wie heute.

prisma: Wie erinnern Sie den Zeitgeist der 90-er?

Christensen: Es war ein naives, fröhliches Jahrzehnt. Man lebte optimistisch und relativ sorgenfrei. Die Mauer war gefallen. Diktaturen schienen weltweit in sich zusammenzubrechen. Die Wiedervereinigung hat uns allen erst mal einen Schub gegeben. Es gab keine Terroranschläge, man fühlte sich sicher. Das Motto einer Loveparade lautete "Friede, Freude, Eierkuchen". Es war eine viel unpolitischere Zeit als die heutige. Trotzdem war es eine Zeit des Aufbruchs.

prisma: Funktionieren Revivals wie Ihre "Classical 90s Dance"-Reihe deshalb, weil Menschen sich immer nach dem Gefühl ihrer Jugend zurücksehnen – und das funktioniert über den Gefühlsbeschleuniger Musik eben recht gut?

Christensen: Ja, das würde ich unterschreiben. Musik ist in unserer Gesellschaft fast immer das Signal: "Oh, ich muss mal wieder geistig entspannen." Ich denke, wer zu uns ins Konzert kommt, um zwei Stunden die Hits der eigenen Jugend zu hören, fühlt sich durchaus inspiriert. Viele meiner Altersgenossen leben ja zerrieben zwischen Job, Familie und dem Stress des modernen Lebens. Vielleicht bekommt der eine beim Hören der Musik eine große Idee. Und der andere beschließt, vielleicht einfach mal einen Handy-freien Tag zu machen. Auch damit hätte man in Sachen Lebensqualität und Glück und schon etwas erreicht.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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