Jakob Augstein: "Eigentlich sind Leute wie ich das Problem"
Warum wird die Debattenkultur in Deutschland immer aggressiver? Jakob Augstein hat darüber einen Film gemacht, den 3sat unter dem Titel "Deutsche Debatten: Die empörte Republik" ausstrahlt. Wie es dazu kam und was hierzulande schiefläuft, erklärt der Verleger und Journalist im Interview.
Dass er selbst dazugehört, verschleiert Jakob Augstein nicht. Ältere Männer wie er seien das Problem, gibt der Verleger und Journalist zu, stellten sie doch die Mehrheit derer, die im Netz schimpfen, pöbeln, beleidigen. Die Debattenkultur habe sich in den vergangenen Jahren extrem verändert, so die Feststellung des "Freitag"-Chefredakteurs, der darüber einen Film gemacht hat. "Deutsche Debatten: Die empörte Republik" lautet der Titel der auf 3sat (Samstag, 14. September, 19.20 Uhr) ausgestrahlten Reportage, in der sich Augstein auf eine Reise durch unser Land begibt. Im Gespräch mit Meinungsführern wie Stefan Aust, mit Google-Mitarbeiterinnen und Europaabgeordneten geht der 52-Jährige der Frage auf den Grund, warum hierzulande – und gerade online – immer agressiver und unversöhnlicher gestritten wird. Seine These: Wenn die Debatte endet, ist die Demokratie bedroht. Wie es dazu kommen konnte, was wir tun könnten und ob es in der alten Bundesrepublik besser zuging, erklärt Jakob Augstein im Interview.
prisma: Herr Augstein, inwiefern debattieren wir in Medien und Öffentlichkeit heute anders als vor ein paar Jahren?
Jakob Augstein: Ich glaube, dass wir in der Debattenkultur in den letzten Jahren eine Veränderung erlebt haben. Sie ist härter geworden, gnadenloser. Und das, obwohl man dachte, das Internet würde die Welt zu einem besseren Ort machen. Diesen Internetoptimismus möchte ich mir allerdings auch nicht nehmen lassen.
prisma: Weshalb nicht?
Augstein: Ich gehöre zu der Generation von Leuten, die analog sozialisiert wurden, und das Wachstum des Internets miterlebten. Auch ich war einer von denen, die große Hoffnung in den befreienden und demokratisierenden Charakter des Netzes gesetzt haben. Heute herrschen mit Blick auf das Internet Ernüchterung und Enttäuschung.
prisma: Hat Sie das dazu bewogen, diesen Film zu machen – und selbst als Protagonist darin in Erscheinung zu treten?
Augstein: Ja, denn es ergibt Sinn, wenn sich jemand meiner Generation anschaut, wie im Vergleich dazu Debatten früher geführt wurden. Wie debattierte man in analogen Zeiten – und wie heute, in diesen scheinbar demokratisierten digitalen Zeiten? Die Unterschiede sind sichtbar, die Frage lautet nur: Wertet man das kulturpessimistisch oder -optimistisch?
prisma: Wie werten Sie es denn?
Augstein: Ich habe starke Neigungen zum Kulturpessimismus, zwinge mich aber aus Vernunftgründen zum Kulturoptimismus. Wir haben keine andere Wahl, denn das Netz wird ja nicht wieder weggehen.
prisma: Was ist schiefgelaufen in der Debattenkultur off- und online?
Augstein: Wir beobachten einen Generationenkonflikt. Eigentlich sind Leute wie ich das Problem. Menschen in meinem Alter, meiner Generation, sind laut Untersuchungen jene, die im Netz am meisten schimpfen. Ältere Männer versauen die Diskussionskultur. Sie bringen die meiste Aggressivität rein.
prisma: Gibt es dagegen überhaupt Strategien?
Augstein: Die Hoffnung ist, dass Jüngere, insbesondere Frauen, in künftigen, auch digitalen Diskursen eine stärkere Rolle spielen. Ist man nun sehr optimistisch, könnte man sagen, dass dies etwa bei "Fridays for Future" schon zu sehen ist. Ich würde ungern den Trumps und Johnsons das Feld überlassen. Wir haben alle die Pflicht zu schauen, wie man Demokratie unter diesen Bedingungen retten kann. Und ich glaube, dass die Debatte der Ort der Demokratie ist. Wenn die Debatte kaputt geht, geht auch die Demokratie kaputt.
prisma: Waren die Debatten in den Feuilletons der alten BRD demokratischer?
Augstein: Nein. Das Paradoxe ist natürlich, dass diese Debatten überhaupt nicht demokratischer waren als heute, sondern im Gegenteil aristokratisch, um in dieser Terminologie zu bleiben. Es waren die "happy few", die die Debatten führen durften. Alte weiße Männer, von denen die meisten heute nicht mehr am Leben sind oder nicht mehr im Amt. Die saßen an den Schaltstellen in den Medien. Weder die Zahl der Teilnehmer noch die der Abspielstationen war sehr groß. Beides hat sich heute geändert.
prisma: Mit welchen Folgen?
Augstein: Heute wird an mehr Orten und mit mehr Leuten debattiert. Fairerweise muss man aber sagen, dass die Debatten deshalb früher besser funktioniert haben. Weniger Leute an weniger Orten. Im Film frage ich Stefan Aust, ob die Debatte deshalb besser war. Er antwortet: Wenn man das findet, ist das arrogant. Diese Antwort fand ich sehr sympathisch. Aber auch er weiß natürlich nicht, wie man den degradierenden Diskurs, wie wir ihn gerade haben, auffangen kann.
prisma: Technologie kann augenscheinlich dabei nicht helfen.
Augstein: Nein, die Technologie ist immer neutral, es kommt darauf an, was wir daraus machen. Sie entwickelt natürlich besondere Eigendynamiken. Und da kommt wieder der Generationenkonflikt ins Spiel: Leute aus anderen Generationen können mit diesen Dynamiken nämlich nicht umgehen. Wenn Sie nicht digital sozialisiert sind, fliegt Ihnen das Netz einfach um die Ohren. Dann halten Sie dessen Kraft nicht aus, haben nicht die Selbstdisziplin und Achtsamkeit, die es braucht. Dann glaubt man, im Netz könne man sich verhalten wie in der Kneipe, wo man sich breitbeinig hinsetzt und anfängt zu pöbeln. In der Kneipe klappt das an einem Abend – im Netz macht es alles kaputt.
prisma: Glauben Sie dennoch, dass in den nächsten Jahren ein adäquater Umgang mit dem Medium gefunden werden kann?
Augstein: Die sozialen Medien existieren erst seit kurzer Zeit. Wir reden über Sachen, die vielleicht zehn, 15 Jahre alt sind. Das ist lächerlich. Schauen Sie, wie viel Zeit wir hatten, um uns über die Wirkung von Fernsehen Gedanken zu machen. In den 50er-Jahren dachte man, die Menschen würden im TV auf verborgene Weise politisch beeinflusst. Bei der Einführung der Funktelefone sorgten sich alle darum, was das mit der Kommunikation macht, wenn jeder jederzeit angerufen werden kann. Das sind heute Dinge fürs Technikmuseum. Gleichzeitig befinden wir uns erneut in so einem Feldversuch.
prisma: Wie würden Sie die Forschungsfrage dieses Versuchs beschreiben?
Augstein: Sie lautet: Was passiert mit der demokratischen Gesellschaft, wenn man sie plötzlich in die digitale Debatte reinwirft? Im Moment sind die Erfahrungen damit einigermaßen ernüchternd.
prisma: Können Sie erklären, warum in dieser Diskussion vor allem jene regressiv Gesinnten das neue Medium am besten zu nutzen wissen, die früher alles Neue eher abgelehnt hätten?
Augstein: Das ist eine traurige, aber richtige Beobachtung. Die so genannten Rechten nutzen das Netz für ihre rechte "Revolution" viel, viel besser als liberale, demokratische und linke Kräfte. Ich denke, es hängt damit zusammen, dass sich das Netz als Werkzeug zunächst besser als Knüppel denn als Feder eignet. Die Algorithmen führen dazu, dass die schrille Meinung mehr Likes bekommt und sichtbarer wird. Das ist auch ein technologisches Problem. Weshalb manche sagen, dass die Algorithmen demokratisiert und zugänglicher werden müssen. Aber: Soll es dann eine Art Facebook-Beirat geben? Ich glaube, dass auch das ein merkwürdig altes Denken ist.
prisma: Was würde sich denn besser eignen, die rechte Online-Offensive einzudämmen?
Augstein: Erst einmal klare Rechtsstaatlichkeit. Es wird immer übersehen, dass es Gesetze gibt, die aber nicht angewendet werden. Wenn ihr wisst, dass im Netz die Demokratie vor die Hunde geht, dann kümmert euch um die Durchsetzung des Rechtsstaats! Und der zweite Punkt ist die Selbstertüchtigung und Selbsterziehung des Einzelnen. Wobei die Debatte im Netz natürlich nur auf die Gesellschaft verweist.
prisma: Inwiefern?
Augstein: Im Film sagt eine Sprecherin von Google sinngemäß: Die Probleme sind da draußen – und die spiegeln sich nur bei uns. Wir bilden nur ab, was bei euch los ist. Das ist ein sehr wichtiger Gedanke. Wenn sich die Debatte im Netz verschärft, deutet das auf eine verschärfte soziale Situation in der Gesellschaft. Das bekommen Sie weder mit Polizei im Netz weg, noch mit Frauen, die sich nett unterhalten. Wenn die soziale Spannung aufgrund sozialer Ungerechtigkeit, aufgrund der Vermögensverteilung und Chancenungleichkeit zunimmt, dann spiegelt sich das eben wider. In dem Moment ist das Netz das Symptom, nicht das Problem.
prisma: Welche Rolle spielte bei der Verschärfung der Debatte und dem Aufstieg der so genannten "Neuen Rechten" die Flüchtlingsdebatte nach 2015?
Augstein: Ich halte das Gerede von der "Neuen Rechten" für Augenwischerei. Denn erstens sind sie alt und waren zweitens schon immer rechts. Aber ja: Die so genannte Flüchtlingskrise war für diese Leute ein verbindendes Element. Plötzlich hatten sie einen gemeinsamen Nenner, auf den sie sich verständigen konnten. Die unterschiedlichen Generationen und Inhalte, die von diesen regressiven Kräften vertreten werden, hatten auf einmal ein verbindendes Thema. Und das brachte diese unglaubliche Beschleunigung und Brutalisierung der Debatte.
prisma: Wie macht sich die Rechte das zunutze?
Augstein: Die Rechten machen gerade eine Revolution, die die Linken nicht hinbekommen haben. Plötzlich werden alle revolutionären Begriffe wie "Widerstand" rechts konnotiert – aus meiner Sicht eine schräge Entwicklung.
prisma: Manche würden Ihnen vorwerfen, den Rechten damit zu viel Bedeutung einzuräumen ...
Augstein: Man muss sich nur umschauen. Die Rechten haben innerhalb weniger Jahre das politische Feld komplett umgepflügt. Sie haben Diskurselemente in die Debatte eingepflanzt, die zuvor völlig unvorstellbar waren. Es ist ihnen gelungen, die politische und sozio-kulturelle Landschaft in kurzer Zeit total zu verändern. Wenn das keine Revolution ist. Mir ist es lieber, das von vornherein so zu benennen, wie es ist.
prisma: Was sagen Sie Debattenführern wie Jan Fleischhauer oder Harald Martenstein, die hierzulande eher eine links-grüne politische und mediale Kultur wahrnehmen?
Augstein: Zunächst setzen diese Leute irgendwie voraus, dass die Grünen links seien. Das sind sie aber gar nicht. In Wirklichkeit haben wir eine grün-schwarz-liberale Wohlfühl-Wischiwaschi-Debattenkultur. Klar, man kann sich schlimmere Sachen vorstellen. Mit links hat das aber gar nichts zu tun. Das würde bedeuten, dass man an die Wurzeln der gesellschaftlichen Probleme geht.
prisma: Warum konnte die Linke dieser Debatte und dem Rechtsruck nichts entgegensetzen?
Augstein: Das gehört zu meinen Lebensrätseln. Ich weiß es nicht. Ich habe nie verstanden, warum die Leute bei freien Wahlen konstant gegen ihre eigenen Interessen wählen. Ohne Koketterie: Das kann ich Ihnen nicht erklären. Für viele Leute, die sie gewählt haben, war Angela Merkel etwa keine gute Bundeskanzlerin. Das sehen Sie an der Entwicklung der Löhne dieser Menschen. Und sie haben sie trotzdem gewählt. Vielleicht ist es damit zu erklären, dass die die Zusammenhänge nicht sehen, dass ökonomische Fragen nicht ausschlaggebend sind – und dass die linken Parteien keine überzeugenden Angebote gemacht haben.
Quelle: teleschau – der Mediendienst