Netflix-Serie "Barbaren"

Was passierte bei der Varus-Schlacht wirklich?

von Frank Rauscher

Die Varus-Schlacht wurde schon häufig in Filmen thematisiert. Netflix machte aus dem Gemetzel eine Serie. Im Interview erklärt der Archäologe Dr. Sascha Priester, was wirklich überliefert ist.

"Nichts war blutiger als jene Niederlage in den Sümpfen und Wäldern, nichts unerträglicher als der Übermut der Barbaren", klagte der römische Chronist Florus. "Den einen entfernten sie die Augen, den anderen die Hände, der Mund eines dritten wurde zugenäht." Wie die "Varus-Schlacht" im Jahre 9 nach Christus im Detail tatsächlich aussah, ist noch nicht ganz erforscht, aber feststeht, dass es eine grausige Metzelei war. Eine Koalition germanischer Stämme nahm es mit drei Legionen auf und vernichtete in einem Hinterhalt 20.000 Mann. Über 2.000 Jahre später wird immer noch allenthalben an dieses geschichtsträchtige Ereignis erinnert. Die "Varus-Schlacht", dieser immer wieder verklärte Mythos, musste schon für vieles herhalten – da ist so eine spektakuläre Netflix-Produktion wie nun "Barbaren" (ab 23. Oktober) noch das geringste Übel. Der Streamingdienst greift in seiner ersten deutschen Historienserie die Ereignisse auf und macht sie zur Seifenoper mit schönen Römern, kernigen Germanen und taffen Kriegerinnen. Alles sehr gewagt, aber nicht illegitim, befindet der Münchner Archäologe, Historiker und Journalist Dr. Sascha Priester im Interview und liefert die wichtigsten Informationen zum Stand der Forschung nach.

prisma: Jeder erinnert sich an "Gladiator" mit Russell Crowe, es gab diverse Dokumentationen ... – Ist es wirklich notwendig, die "Varus-Schlacht" immer wieder zum Gegenstand von Film- und TV-Produktionen zu machen?

Dr. Sascha Priester: Unbedingt sogar. Das Ereignis der "Varus-Schlacht" im Jahr 9 n. Chr. gehört zu den konkreten Geschichtsdaten, die im Schulunterricht vermittelt werden – und die sich Menschen auch merken. Aber wer kämpfte noch mal gegen wen? Warum? Wo war das? Und: Gibt es dazu neue Erkenntnisse? Wichtig ist, dass Verantwortliche in der filmischen Darstellung klar trennen: Was wissen wir, und was glauben wir zu wissen?

prisma: Womit wir bei der Fiction wären ...

Dr. Priester: Ja, Serien erzählen, was ja auch der Sinn von Fiction ist, meist sehr frei, vor einem grob gezeichneten Hintergrund. Aber das ist in Ordnung. Es geht um Action, um Spannung, um Dramaturgie und eben auch Historie, mal detailgetreuer, mal weniger. Das Bewegtbild halte ich grundsätzlich für eine hervorragende Sache, um Geschichte zu vermitteln: ob als wissenschaftliche TV-Doku oder Action-Serie, ob als lineares Fernsehen oder per Streaming.

prisma: Geschichte hat im TV fraglos Konjunktur. Stellen auch Sie als Historiker ein steigendes Interesse an Geschichte fest?

Dr. Priester: Ich denke, es gibt ein großes Interesse – aber Geschichte war nie wirklich weg aus den Köpfen. Vielleicht wird die Nachfrage durch die eher schlechten Nachrichten aus der Wirtschaft verstärkt, durch die überall präsente Corona-Krise – dass sich Leute wieder etwas mehr Zeit nehmen, sich für historische Zusammenhänge in Politik und Gesellschaft interessieren, für historische Wurzeln und dabei zugleich Welten für sich erschließen, die vergangen und doch aktuell sind.

prisma: Netflix zeigt "Barbaren" als Gemetzel. Die Serie erzählt von der Schlacht als Reaktion auf den römischen Territorialhunger. Wird das dem gerecht, was sich vor 2.000 Jahren abspielte?

Dr. Priester: Nun, unblutig war diese Zeit sicher nicht. Römische Truppen drangen schon im 1. Jahrhundert vor Christus in den mitteleuropäischen Raum vor. Das bekannteste Beispiel für diesen Imperialismus ist Caesars "Gallischer Krieg", der die Unterwerfung Galliens zur Folge hatte. Ganz Galliens. Caesar traf dabei auch auf Stämme, die von den Römern mit dem Sammelbegriff Germanen bezeichnet wurden. Die Begegnung mit dem Germanenfürsten Ariovist am Rhein ist ja verbrieft. Damit hatte sich die Situation umgekehrt: Nachdem jahrzehntelang germanische Stämme immer wieder in römisch besetzte Gebiete eingedrungen waren, standen plötzlich die Römer vor den Toren dieser Völker. Im Anschluss an Caesars Expansion versuchte sein Adoptivsohn Augustus, der erste römische Kaiser, Roms Grenzen hier noch weiter auszudehnen. Die Römer wollten das, was wir heute als Mitteldeutschland kennen, unterwerfen und dem Reichsgebiet einverleiben. Die rechtsrheinischen Gebiete bis zur Elbe sollten zu einer dauerhaften neuen Provinz werden. Die blutigen und verlustreichen Auseinandersetzungen unter Augustus und seinem Nachfolger Tiberius lassen sich zwischen 12 v. Chr. und 16. n. Chr. datieren – knapp drei Jahrzehnte, die letztlich damit endeten, dass die Römer diesen Plan aufgeben mussten und sich zurückzogen.

prisma: Wenn es so viele Kämpfe gab, was ist dann das Faszinierende an der "Varus-Schlacht"?

Dr. Priester: Das Thema ist mehrfach spannend: Es gibt die eigentliche Geschichte – und die Geschichte nach der Geschichte, also das, was in der Verklärung alles daraus gemacht wurde. Und es ist das Aufeinandertreffen von zwei Persönlichkeiten, über die wir gerne mehr wissen würden: Auf der einen Seite haben wir den römischen Feldherrn Publius Quinctilius Varus: Er hatte unter Augustus Karriere gemacht, war Prokonsul der Provinz Africa, später kaiserlicher Statthalter in Syrien. Ab 7 n. Chr. verwaltete er Germanien und war dabei zugleich auch der Oberkommandant der am Rhein stationierten Legionen. Im Frühsommer 9 n. Chr. führte er drei Legionen – etwa 15.000 bis 20.000 Legionäre und Hilfstruppen – in die Katastrophe und stürzte sich noch auf dem Schlachtfeld in sein Schwert. Auf der anderen Seite steht der Mann, den wir als Arminius kennen: ein Fürst der Cherusker in römischen Diensten, der ein Bündnis gegen Rom zustande gebracht hatte und die Truppen des Varus besiegte.

prisma: Wie konnten die vermeintlich primitiven "Barbaren" drei Legionen vernichten?

Dr. Priester: Zählen wir die wenigen Fakten, die wir zu diesem Ereignis kennen, zusammen: Die Römer kehrten von der Weser in ihre Winterlager am Rhein zurück. Das heißt, die Legionen hatten anstrengende Tage hinter sich, waren vielleicht nicht mehr topfit und wollten wohl nur noch nach Hause. Dazu kommt, dass Arminius womöglich ein Intrigenspiel spielte und seinen vermeintlichen Freund Varus verriet, indem er ihn tatsächlich unter einen Vorwand in unbekanntes Gebiet führte. Und dann traf dieser endlos lange Heereszug in unwegsamem Gelände auf immer wieder neue Stämme, die sich zu einer Allianz zusammengeschlossen hatten. Die Germanen versetzten die Römer in Panik, und diese verloren mehr und mehr das, was sie so stark machte: ihre Schlachtordnung.

prisma: Was man in der Serie oder auch bei "Gladiator" anschaulich sehen konnte ...

Dr. Priester: Stopp: Spätestens hier spielt sich in unseren Köpfen sehr viel Kopfkino ab. Unsere Vorstellung von der "Varus-Schlacht" – ein Hinterhalt, Lager, Verschanzungen oder auch ein zusammenhängendes Schlachtfeld – muss wissenschaftlich hinterfragt werden. Und unser Bild davon wird durch die laufend neuen Erkenntnisse aus den Forschungen in Kalkriese auch bereichert und verändert.

prisma: Wie darf man sich das Schlachtengetümmel nun vorstellen: Grausamkeiten ohne Ende, Mann gegen Mann, mit stumpfen Waffen, so, wie wir es nun in der Netflix-Serie sehen?

Dr. Priester: Es ging beim römischen Nahkampf darum, den Gegner mit dem Schwert kampfunfähig zu machen, also schwer zu verwunden, wenn nicht tot zu schlagen. Der Gladius, das Schwert der Infanterie, war die geeignete Waffe dafür. Denn die römischen Fußsoldaten kämpften oft in in dichter Geschlossenheit, in Reihen hintereinander und durch ihre großen Schilde geschützt. Als Teil dieser Formation konnte sich der einzelne, an der Waffe bestens ausgebildete Legionär beim Gegeneinanderschieben der Kämpfer schnell einen Vorteil verschaffen – und das etwa 70 Zentimeter kurze Schwert sowohl als Hieb- wie vor allem auch als Stichwaffe einsetzen. Die Schlachtfelder waren übersät mit abgeschlagenen Gliedmaßen. Man kann es sich eigentlich nicht brutal genug vorstellen.

prisma: In einer Serienproduktion wie "Barbaren" werden Leben und Kämpfe in dramatisch-drastischen Bildern nachgestellt. Wie finden Sie als Historiker eine derart gewagte Geschichtsinterpretation?

Dr. Priester: Ich persönlich bin wahrlich kein Fan von Metzel-Szenen und der Darstellung von Gewalt, um der Gewalt willen. Die Argumentation, Schlachten seien nun einmal brutal oder die Darstellung von expliziter Gewalt wäre abschreckend-erzieherisch gemeint, überzeugt mich nicht, wenn ich die für mich oft sehr befremdliche und eklige Inszenierung derartiger Splatter-Elemente sehe. Gegen freie Geschichtsinterpretation habe ich nichts. Im Gegenteil – wenn wir uns bewusst sind, dass wir hier rekonstruieren, interpretieren oder sogar fantasieren. Rekonstruktionen dienen dazu, eine plastische Vorstellung zu ermöglichen. Sie sind nur eine Annäherung an die antike Wirklichkeit. Wie es genau bei der "Varus-Schlacht" im Detail war, wissen wir nicht. Dazu kommt hier noch ein schwerwiegender Punkt: Die wichtigsten antiken Quellen entstanden über 100 Jahre nach Arminius. Keiner der antiken Schriftsteller war vor Ort. Und natürlich waren diese Chronisten bemüht, ihrem römischen Leser zu gefallen.

prisma: Das heißt?

Dr. Priester: Sie vermittelten ein klares Schwarzweiß-Bild: Es gab die Fieslinge, also die Germanen, und die strahlenden Helden, die tapferen Legionäre. Wenn wir heute vom "Verrat des Arminius" sprechen, dann hat das auch mit dieser Art der Geschichtsschreibung zu tun. Das hat ja was Düster-Romantisches: Die armen, verratenen, verlassenen Legionen, die sich durch Sumpf und dunkle Wälder zum Rhein durchschlagen und von den lauernden Germanen Mann für Mann grausam abgeschlachtet werden. Andererseits baute man "die Germanen" als tapfere Krieger auf – schließlich hatten antike römische Schriftsteller wie Tacitus das Problem, zu erklären, warum Rom diese Stämme nicht besiegen konnte.

prisma: Was hält die Forschung dagegen?

Dr. Priester: Es gibt mittlerweile einiges. Lange hatten wir nur den Grabstein des Centurio Marcus Caelius, der heute im Bonner Museum steht. Auf diesem ist vom "bellum Varianum", dem "Varus-Krieg", die Rede – ein Hinweis also, dass es sich nicht nur um eine Schlacht handelte, sondern dass da furchtbar viel mehr passiert sein muss. Wir wissen nicht genau, wo dieser Centurio gefallen ist, auch nicht, ob er bei der letzten, der entscheidenden Schlacht dabei war.

prisma: Wie weit ist die archäologische Spurensuche inzwischen gekommen?

Dr. Priester: Ein hochinteressantes und sehr aktuelles wissenschaftliches Thema. Im Osnabrücker Land, in Kalkriese, hat man zweifellos ein unglaublich großes Schlachtfeld aus der Augusteischen Zeit gefunden. Ob es sich um den Ort der "Varus-Schlacht" handelt, ob sich dort Varus' Last Stand abspielte, ist eine denkbare, wenngleich sehr attraktive Interpretation. Wir wissen aber immer noch nicht, wo und vor allem wie sich diese kriegerische Auseinandersetzung abgespielt hat. Glauben wir den antiken Schriftstellern, dauerte sie drei Tage und drei Nächte. Man kann sich vorstellen, dass die drei Legionen weit auseinandergezogen durch den Wald marschierten. In Kalkriese könnte ein Teil dieser Varus-Armee sein Ende gefunden haben. Es könnte aber auch sein, dass dort fünf Jahre später, also zu Zeiten des Germanicus, Kämpfe stattfanden.

prisma: Welche konkreten Hinweise gibt es?

Dr. Priester: Wissenschaftlicher Leiter der Grabungen ist Prof. Dr. Salvatore Ortisi, der den Lehrstuhl für Provinzialrömische Archäologie der Ludwig-Maximilians-Universität München innehat. Die Forschungen von ihm und seinem Team bestätigen, dass das Kriegsereignis eine ungeheure räumliche Ausdehnung hatte, wie die Verbreitung von Münzschätzen und die Streuung römischer Ausrüstungsteile im Gelände zeigen. Besonders spektakulär war 2018 die Entdeckung eines sehr gut erhaltenen Schienenpanzers, der den Oberkörper eines römischen Legionärs geschützt hatte. In den letzten Jahren konnte auch das Wall-Graben-System eines römischen Marschlagers identifiziert werden, das etwa 3.000 Soldaten Platz geboten haben könnte und als Verschanzung gut zum Szenario einer späten Phase im Untergang der Varus-Armee passen würde. Diese Ausgrabung und die Auswertung der Fundstücke wird die Forscher noch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten beschäftigen – und uns sicher immer mehr Antworten liefern, wie wir uns den "Varus-Krieg" und die kriegerischen Ereignisse der Augusteischen Zeit an diesem Ort vorzustellen haben.

"Thusnelda" war wohl keine "Tusse"

prisma: Wie bei modernen Serien üblich, nehmen attraktive Frauen in "Barbaren" eine tragende Rolle ein. Was ist nach Stand der Forschung über Kriegerinnen und das Zusammenleben von Mann und Frau in der Zeit der Germanen bekannt?

Dr. Priester: Auch hier haben wir die Problematik der Überlieferung von Informationen. Aus der Zeit der Varus-Ereignisse haben wir nur die Beschreibungen römischer Schriftsteller. Diese Texte sind logischerweise aus römischer Sicht für eine römische Leserschaft geschrieben. Gerade im Kontrast zur römischen Frau wird hier die kriegerische, stolze Germanin skizziert, die die Kämpfer in der Schlacht anfeuert – aber nicht aktiv mitkämpft. Eine Ausnahme scheint es bei wandernden Stämmen gegeben zu haben. Erst wenn ihre Männer fliehen, greifen die Frauen – sie hatten sich in der Wagenburg verschanzt – in das Geschehen ein. Tacitus preist die Treue und Sittsamkeit der germanischen Frau, die sich um Haus und Hof sorgt – dies aber weniger, weil er dies tatsächlich wissen konnte, sondern weil er mit dieser Vision eines edlen Naturvolks der römischen Elite und ihrer Moral einen Spiegel vorhalten wollte. Ein besonderes Kapitel ist der sakral-religiöse Bereich, wenn einigen germanischen Frauen prophetische Kräfte nachgesagt werden: So übte die Seherin Veleda aus dem Stamm der Brukterer in der zweiten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. großen politischen Einfluss aus.

prisma: "Barbaren" rückt die Figur der "Thusnelda" in den Fokus – ein Name, der heute eher als Schimpfwort gebraucht wird. Was hat es mit der realen historischen Vorlage auf sich?

Dr. Priester: Thusnelda taucht erst einige Jahre nach den Ereignissen des Varus-Krieges aus dem Dunkel der Geschichte auf. Wenn wir den antiken Autoren Strabon und Tacitus glauben dürfen, hat Arminius seine spätere Gemahlin Thusnelda um das Jahr 14 n. Chr. – offenbar mit ihrem Einverständnis – entführt und geheiratet. Sie war die Tochter des cheruskischen Fürsten Segestes, der den Römern wohlwollend gegenüberstand. Als sie von Arminius schwanger ist, lässt Segestes sie entführen und liefert Thusnelda den Römern unter ihrem Befehlshaber Germanicus aus. In der Gefangenschaft in Ravenna wird Arminius' Sohn Thumelicus geboren. Mutter und Kind werden dem Volk von Rom am 26. Mai 17 n. Chr. als lebendige Trophäen vorgeführt: Germanicus lässt sich für seine Kämpfe in einem Triumphzug feiern, und Segestes ist bei diesem Spektakel als Ehrengast der Römer auf der Zuschauertribüne dabei.

prisma: Und dann?

Dr. Priester: Mit diesem Ereignis verschwindet Thusnelda wieder im Dunkel der Geschichte; über ihr Schicksal und das weitere Leben des Thumelicus ist nichts bekannt. Carl Theodor von Piloty malte die Cheruskerin in seinem Historiengemälde "Thusnelda im Triumphzug des Germanicus" noch 1873 als stolze Germanenfürstin, die ungebrochen und als majestätische Lichtgestalt auftritt. Im 20. Jahrhundert wurde ihr Name umgedeutet, "Thusnelda" wurde zum Schimpfwort als Bezeichnung für lästige, einfältige oder auch eitle (Ehe-)Frauen. Aus dieser Verunglimpfung leitet sich auch die Kurzform "Tusse" oder "Tussi" ab.

prisma: Warfen sich die Stämme seinerzeit mit dem bewussten Gedanken an ein einheitliches Germanien in die "Varus-Schlacht"?

Dr. Priester: Man sollte sich bewusst machen, dass der Germanen-Begriff an sich eine sehr stark vereinfachende Darstellung der Neuzeit ist. Das Besondere an dem Widerstand gegen die Eroberer lag darin, dass es Arminius gelang, eine Koalition verschiedener Stämme unter einen Hut zu bekommen. Diese ging geschlossen handelnd mit einem klaren Plan, einer ausgeklügelten Strategie gegen die übermächtige Maschinerie der römischen Legionen vor. Aber wie das bei Koalitionen so ist: Kaum sind sie erfolgreich vereint, beginnt es auch schon zu kriseln. Im Anschluss an die "Varus-Schlacht" zerfiel das germanische Gebilde schnell. Es kam zu neuen Zwistigkeiten und Machtspielen, denen auch Arminius am Ende selbst zum Opfer fiel. Er wurde im Jahr 21 n. Chr. von Verwandten ermordet.

prisma: Hat der Recht, der behauptet, die "Varus-Schlacht" sei eine Art Geburtsstunde der Deutschen gewesen?

Dr. Priester: Nein. Das halte ich für historisch falsch. Eine Geburtsstunde der Deutschen oder der Germanen ist so nicht erlebt worden. Wenn, dann könnte man höchstens eine ganze Kette von Abläufen so bezeichnen. Die Geburtsstunde der Deutschen würde ich sowieso über 1.000 Jahre später ansiedeln, im Laufe des Mittelalters. Der Geburtsstunde-Gedanke, ein nationales Gefühl in Verbindung mit dem Ereignis der "Varus-Schlacht", kam erst 1600/1700 auf, als Deutschland nach dem 30-jährigen Krieg total zerrissen war. Eine national denkende Schicht aus Humanisten und Literaten fand in Arminius eine Symbolfigur, eine Projektionsfläche eigener Wünsche und Sehnsüchte. Da wurde der Mythos um "Hermann den Cherusker" geboren. Und dieser zieht sich bis heute durch sämtliche nationale Irrungen und Wirrungen hindurch. Er entstand aus dem Bedarf nach einer Identifikationsfigur und fiel einer unvergleichlichen Verklärung anheim. Ähnliches geschah in Frankreich mit dem Caesar-Gegner Vercingetorix.

prisma: Über den wahren Arminius ist gar nicht so viel bekannt, oder?

Dr. Priester: Richtig. Er ist wohl, wie damals üblich, als junger Fürstensohn und germanische Geisel in römische Obhut gekommen und im Heeresdienst ausgebildet worden. Er kommandierte die germanischen Hilfstruppen. Daraus kann man sich viel zusammenreimen. Vielleicht hatte er nur ein persönliches Problem mit Varus. Oder er fand die Römer furchtbar dekadent ... Wir können das nicht belegen.

prisma: War er nun ein Held oder ein Verräter?

Dr. Priester: Beides und doch nichts davon! Für die römischen Schriftsteller ist er ein Verräter. Aber das war für diese Ideologie grundsätzlich jeder Barbar: feige, hinterlistig, verräterisch. Die Römer mussten eben irgendwie eine Erklärung für diese Katastrophe finden. Ein ganzes Heer wurde vernichtet. Für sie musste das einfach mit Verrat zu tun gehabt haben. Möglicherweise ist das ein Rufmord, den wir bis heute nicht aus unseren Köpfen bekommen.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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