ARD-Experte bei der WM 2018

Weshalb Thomas Hitzlsperger die Nationalelf vorn sieht

von Eric Leimann
Die Fußball-WM 2018 wird im Olympiastadion Luschniki am 14. Juni 2018 eröffnet und am 15. Juli 2018 mit dem Finale beendet. Das Rund bietet Platz für 81.000 Zuschauer und ist das größte Fußballstadion in Russland.
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Die Fußball-WM 2018 wird im Olympiastadion Luschniki am 14. Juni 2018 eröffnet und am 15. Juli 2018 mit dem Finale beendet. Das Rund bietet Platz für 81.000 Zuschauer und ist das größte Fußballstadion in Russland.  Fotoquelle: Tatiana Popova / Shutterstock.com

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Mehmet Scholl setzt er auf leise, aber pointierte Analysen anstatt markiger Sprüche, die aufs Humorzentrum zielen. Der ehemalige Nationalspieler Thomas Hitzlsperger, 36, hat sich zum Top-Fußballexperten der ARD hochgearbeitet. Als Spieler wurde "Hitz The Hammer" zuerst in der englischen Premier League zu Star, ehe er nach seinem Wechsel zum VFB Stuttgart mit den Schwaben Deutscher Fußballmeister 2007 wurde. 52-mal spielte Thomas Hitzlsperger für die deutsche Nationalmannschaft.

2013 beendete er seine aktive Karriere und "outete" sich kurz danach als schwul. Dafür erntete der gebürtige Münchener viel Zuspruch. Im Interview vor der Weltmeisterschaft 2018 in Russland spricht der 52-fache Nationalspieler über gute und schlechte Entwicklungen im modernen Fußball sowie das Geheimrezept deutscher Nationalmannschaften.

prisma: Wer wird Fußball-Weltmeister 2018?

Thomas Hitzlsperger: Die schwierigste Frage also gleich zu Beginn. Es gibt eine Reihe von Top-Teams, die lange dabei sein werden. Deutschland gehört dazu. An einen Außenseiter im Halbfinale glaube ich nicht.

prisma: Wenn wir Sie aber fragen, wer die besten Chancen hat ...

Hitzlsperger: Ich sehe fünf, sechs Mannschaften. Spanien, Frankreich, Portugal, Brasilien, Argentinien und natürlich Deutschland. Ich glaube, dass diese Teams den Weltmeistertitel unter sich ausmachen werden.

prisma: Hat Deutschland als Titelverteidiger einen Vorteil?

Hitzlsperger: Der Titelverteidiger hat keinen Vorteil, aber auch keinen Nachteil. Trotzdem glaube ich, dass man die Deutschen unter den sechs Favoriten leicht vorne sehen kann. Wir haben einen sehr guten Kader. In der Breite sind wir besser besetzt als fast alle anderen. Auch der Ruf der Turniermannschaft hat uns immer ein Stück weit getragen ...

prisma: Dass breite Kader für Vereinsmannschaften über eine lange Saison von Nutzen sind, liegt auf der Hand. Aber macht sich die Begrenzung auf 23 Spieler im Aufgebot in so einem kurzen, verdichteten Turnier bemerkbar?

Hitzlsperger: Ich glaube, schon. Ein breiter Kader bietet die Möglichkeit, andere Spielertypen einzusetzen, wenn der Gegner es erfordert. Wenn sie allein die Vorrunde betrachten – dann treffen wir auf drei sehr unterschiedliche Mannschaften. Die WM hat ja den Charme, dass sie viele unterschiedliche Fußballstile zusammenbringt. Darauf muss man reagieren. Gegen Schweden sind ganz andere Lösungen gefordert als gegen Südkorea oder Mexiko.

prisma: Welche Rolle spielt der Trainer?

Hitzlsperger: Er gibt die Richtung vor und ist daher von großer Bedeutung. Jogi Löw ist ein sehr erfahrener Trainer, und ich sehe uns gerade auf dieser Position sehr gut aufgestellt. Löw hat in der Vergangenheit bewiesen, dass er immer wieder gute Lösungen parat hatte.

prisma: Einige Experten sagen, dass es diesmal schwerer für Deutschland wird, Weltmeister zu werden. Weil alle Mannschaften besser geworden sind, sich die anderen aber mehr verbessert hätten. Stimmt das?

Hitzlsperger: Klar, andere Teams haben sich verbessert. Aber die Mannschaft hat doch erst vor einem Jahr den Confed Cup gewonnen, das war eine große Leistung. Ansonsten finden heute auch die sogenannten Kleinen Lösungen, die den Größeren wehtun. Ich halte die deutsche Nationalmannschaft nach wie vor für sehr, sehr gut.

prisma: Hilft einem das Selbstbewusstsein, dass man Weltmeister ist, ein bisschen weiter? Oder ist das eher von Nachteil, weil es Druck erzeugt, die hohen Erwartungen bestätigen zu müssen?

Hitzlsperger: Übertriebenes Selbstbewusstsein, das ja auch nahe an der Arroganz segelt, hilft im Fußball selten weiter. Dieses Risiko sehe ich bei der Mannschaft allerdings nicht. Sie tritt immer bescheiden und demütig auf. Das wird auch von Jogi Löw und seinem Team vorgelebt. Sie wissen: Wer Sprüche klopft, steht noch mehr unter Beobachtung. Eleganter ist es, die Leistung ohne vorherige Sprüche gleich auf den Platz zu bringen. Ohne ganz viel Arbeit kann man im modernen Fußball sowieso nichts mehr erreichen.

prisma: Welche Rolle spielt Motivation? Natürlich sagt jeder, der in Russland dabei ist, er sei top motiviert. Aber trifft das tatsächlich auf jeden Spieler, jede Mannschaft zu?

Hitzlsperger: Ich glaube schon, dass es Unterschiede gibt. Man hat am Confed-Cup und der deutschen B-Elf im letzten Jahr gesehen, was ein bis in die Haarspitzen motiviertes Team erreichen kann. Es gibt aber auch Teams und Spieler, bei denen die Motivation, den Sommer mit der Nationalmannschaft zu verbringen, nicht so hoch ist. Das ließ sich an den Engländern jahrelang gut beobachten. Dass es in Deutschland immer anders war, ist einer der wichtigsten Faktoren, warum wir in Turnieren oft weit gekommen sind. Selbst zu Zeiten, als wir weniger starke Mannschaften als heute hatten.

prisma: Wie wichtig sind weiche Faktoren?

Hitzlsperger: Sie spielen ebenfalls eine große Rolle. Das Team um Löw bemüht sich sehr, dass die Spieler gerne zur Nationalelf kommen. Oliver Bierhoff macht diesbezüglich einen überragenden Job. Aber auch viele im Team dahinter. Leute, die man nicht so kennt. Zudem achtet Löw bei der Auswahl seiner Spieler vielleicht mehr als andere Trainer darauf, dass sie menschlich zusammenpassen. Er hat erkannt, wie positiv sich ein gutes Gruppengefühl auf die Leistung auswirkt. Die Jungs müssen fünf Wochen zusammenleben. Da verträgt man keinen Spieler, der nach drei Wochen keine Lust mehr hat. Oder einen, der sein eigenes Wohl über das der Mannschaft stellt.

prisma: Die vergangene Bundesligasaison wurde kritisiert, weil sie viele niveauarme Spiele bot. Auch international haben die deutschen Teams – bis auf die übermächtigen Bayern – international offenbar an Boden verloren. Werden wir auch bei der WM viel schlechten Fußball sehen?

Hitzlsperger: Eine Weltmeisterschaft bringt mehr Überraschungen. Weniger bekannte Teams und Spieler überzeugen oft mit interessanten Taktiken und Spielweisen. Oder sie bringen wie Island bei der letzten Europameisterschaft Fans mit, die für beste Stimmung sorgen. Es sind solche Farbtupfer, die eine WM ausmachen – und die möchte ich auch nicht missen.

prisma: Aber den besten Fußball der Welt sieht man anderswo, oder?

Hitzlsperger: Klar. Wer die besten Fußballmannschaften der Welt sehen will, muss sich die Champions League anschauen. Trotzdem bieten die Favoriten meist hochklassigen Fußball, der an das Niveau der Champions League heranreicht.

prisma: Aber Sie teilen die Kritik an der Bundesliga?

Hitzlsperger: Ja, im Prinzip schon. Viele, zu viele Spiele waren nicht gut, weil sie doch sehr von Taktik geprägt waren. Die meisten Diskussionen drehen sich heute um Taktik und das Spiel gegen den Ball – das finde ich oft sehr destruktiv.

prisma: Was kann man dagegen tun?

Hitzlsperger: Die Vereine müssen mutiger werden, auch die Spieler müssen mutiger agieren. In Deutschland hat sich der Defensivfußball, das Gegenpressing durchgesetzt. Die wichtigste Aufgabe lautet: Wie erobere ich den Ball, wenn der Gegner ihn hat. Wir brauchen einen positiveren Ansatz in der Bundesliga. Die Angst vor Niederlagen und Abstieg verhindert Kreativität.

prisma: In welchen Bereichen hat sich der Fußball seit der letzten WM am meisten weiterentwickelt?

Hitzlsperger: Eine Weltmeisterschaft dient nicht mehr als Gradmesser für Entwicklungen. Das hat sich auf den Vereinsfußball verlagert, vor allem auf die Champions League. Ich bin oft erstaunt über die technischen Fertigkeiten der Spieler und das Verhalten und Druck. An der Athletik wird ebenfalls viel gearbeitet.

prisma: Aber wird daran doch schon seit Jahrzehnten gearbeitet? Man glaubt kaum, dass dort noch so viel rauszuholen wäre ...

Hitzlsperger: Ja, ein paar Prozent gehen immer noch. Und die machen dann eben den Unterschied. Die besten Spieler überlassen nichts mehr dem Zufall. Sie haben Individualtrainer, achten extrem auf ihre Ernährung, lassen ihren Schlaf überprüfen und so weiter. Um den Profi-Fußball herum sind gerade in den letzten Jahren viele neue Geschäftsmodelle entstanden, die Spieler in den Randbereichen des Fußballs noch besser machen sollen.

prisma: Und das stößt bei den Spielern auf offene Ohren?

Hitzlsperger: Ich sage nicht, dass alles sinnvoll ist. Entscheidend ist, dass die Spieler diese Ideen heute sehr dankbar aufgreifen, weil sie sich stetig verbessern wollen.

prisma: Wovor haben Sie in Russland die größte Sorge und worauf freuen Sie sich?

Hitzlsperger: Meine Sorge ist, dass dort keine Begeisterung entsteht, die ein solches Turnier – siehe Deutschland 2006 – emotional zu einem ganz besonderen Ereignis werden lässt. Ich freue mich hingegen auf die angesprochene, bunte WM. Auf Geschichten, die man nicht vorhersehen kann. Darauf hoffe ich bei dieser Weltmeisterschaft.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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