Brisantes ARD-Drama

"Aufbruch ins Ungewisse": Wenn Europäer nach Afrika fliehen

von Maximilian Haase
Das ARD-Drama "Aufbruch ins Ungewisse" dreht die Vorzeichen der Flüchtlingskrise um. Hier zu sehen: Jan Schneider (Fabian Busch), seine Frau Sarah (Maria Simon, links) und Tochter Nora (Athena Strates) im Flüchtlingslager.
Das ARD-Drama "Aufbruch ins Ungewisse" dreht die Vorzeichen der Flüchtlingskrise um. Hier zu sehen: Jan Schneider (Fabian Busch), seine Frau Sarah (Maria Simon, links) und Tochter Nora (Athena Strates) im Flüchtlingslager.  Fotoquelle: WDR/Anika Molnár

Verzweifelte Menschen werden aus zerstörten Booten an die Küste gebracht, erschöpft lassen sie Fragen über die Flucht aus ihrem Heimatland über sich ergehen, hoffen in Massenunterkünften darauf, in ein Land zu gelangen, das ihnen Asyl gewährt. Südafrika nimmt noch Geflüchtete auf, sagt man. Südafrika?

Im ARD-Drama "Aufbruch ins Ungewisse" werden die Vorzeichen der hiesigen Flüchtlingskrise seit dem Sommer 2015 einfach umgedreht: Deutschland und Europa geraten unter autoritäre Herrschaft, Verfolgte und Minderheiten müssen nach Afrika fliehen. Das Erste spinnt eine mögliche düstere Zukunft, die bedrückend die heutige Realität vor Augen führt.

Nationalistische, autoritäre Regierung

Es ist Science-Fiction, aber wohl kein komplett unrealistisches Szenario, vor dem man sich nach der Bundestagswahl 2017 und dem Rechtsruck in Europa in der Tat fürchten kann: Deutschland im Jahr 2027 – die EU gibt es nicht mehr. Eine nationalistische, autoritäre Regierung übt Willkür, verfolgt Migranten, Homosexuelle und andere Minderheiten. Immer mehr Menschen sehen sich zur Flucht gezwungen – zu einem "Aufbruch ins Ungewisse", so der Titel des dystopischen Dramas von Regisseur Kai Wessel nach einem Drehbuch von Eva Zahn, Volker A. Zahn und Gabriela Zerhau.

Im Mittelpunkt des überaus bedrückenden Fluchtdramas, das vom Ersten im Rahmen eines ganzen Themenabends gezeigt wird, steht die Familie Schneider. Nachdem Vater Jan (Fabian Busch) als Anwalt in Deutschland aufgrund seines Engagements für die Regimeopfer verfolgt wird, will er mit seiner Frau Sarah (Maria Simon) und den beiden Kindern Nora (Athena Strates) und Nick (Ben Gertz) nach Kapstadt fliehen. Doch der Frachter der Schlepper lässt die europäischen Flüchtlinge nicht in Südafrika, sondern an der namibischen Küste von Bord. Es kommt zur Katastrophe: Im Sturm auf See geht Nick verloren. Verzweifelt erreicht der Rest der Familie die Flüchtlingslager.

Unter kargen Bedingungen mit anderen zusammengepfercht, auf der verzweifelten Suche nach dem verlorenen Kind, sieht die Familie, die an der Flucht zu zerbrechen droht, einer ungewissen Zukunft entgegen; zumal die Weiterreise nach Südafrika gefährdet ist, weil Namibia konsequent in die Herkunftsländer abschiebt.

Ja, in fast jedem Detail orientiert sich das Drama an den realen Schicksalen der geflüchteten Syrer, Afghanen und Afrikaner, die unter schwersten Umständen die Festung Europa überwinden, um hier ein neues Leben zu finden. Die Idee ist fürwahr packend, die Inszenierung aufwendig und gelungen – ein Stoff, der auch eine ganze Serie tragen könnte.

"Das darf man nicht nur, das muss man machen"

Beim Versuch, den Deutschen jene oft zynisch kommentierte Flucht-Erfahrung durch Umkehrung der Situation in einer Alternativ-Geschichte zu spiegeln, hat man jedoch ein wenig über die Stränge geschlagen. Bisweilen scheint es, als wolle man jedes Flucht-Klischee Punkt für Punkt abhaken. Und dann wäre da noch die moralische Frage, ob eine derartige Verdrehung der Blickwinkel überhaupt richtig ist: Darf man angesichts der kolonialen Geschichte und wirtschaftlichen Ungleichheit das Nord-Süd-Verhältnis einfach mal umdrehen? "Das darf man nicht nur, das muss man machen", weiß Hauptdarsteller Fabian Busch die einfache Antwort: "Plötzlich sind es die Nachbarskinder und die Frau von nebenan, die flüchten müssen. Da fällt die Identifikation leichter." In der Tat: Wichtig und richtig ist der Film, der mit dem Rechtsruck und den Fluchtursachen zwei der dringlichsten Themen unserer Zeit aufgreift, ohne Frage.

"Es ist keine Frage, dass wir auch in Deutschland Probleme haben", holt Produzentin Kirsten Hager (Hager Moss Film GmbH) zur Grundintention des Films aus. Sie glaubt, "es ist sinnvoll, immer mal wieder über den Tellerrand zu schauen und daran zu erinnern, wie fragil das Leben ist, und das, was wir uns in diesem Leben aufgebaut haben." Ein solcher Film könne "ein wenig an unseren Grundfesten rütteln und an unserer scheinbaren Sicherheit, die wir hier genießen. Und das schärft dann vielleicht auch unsere Empathiefähigkeit gegenüber den Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ihr Land verlassen müssen oder glauben, es verlassen zu müssen, weil sie in Zuständen leben, die für sie nicht mehr haltbar sind."

Das in der Dystopie geschilderte Szenario sei alles andere als an den Haaren herbeigezogen: "Wir haben mit einem renommierten Zukunftsforscher von der Ludwig-Maximilians-Universität München über das gesellschaftspolitische Setting gesprochen", erklärt sie. "Wir wollten so nah wie möglich an ein Szenario herankommen, das sich so ereignen könnte. Wir dachten zunächst an eine neue Bankenkrise, an das Wegbrechen des Mittelstandes. Doch bei dem Gespräch stellte sich heraus, dass der Rechtsnationalismus ein ganz zentrales Thema sein kann. Als sich 2016 der Putschversuch in der Türkei ereignete, entwickelte sich daraus ein Szenario, das unserem doch recht nahe kam: In einem europäischen Land wurden auf einmal Zeitungen und Sender geschlossen, Ärzte, Lehrer und Rechtsanwälte kamen in Haft. Wir empfanden diese Situation als sehr unheimlich, so von wegen: nicht, dass uns die Wirklichkeit einholt."

Gefundenes Fressen für selbsternannte "Staatsfunk"-Kritiker

Es läuft einen eiskalt den Rücken hinunter – ob des bloßen Horrorszenarios, aber auch angesichts der Ahnung, welche Debatten ein solcher Film hierzulande auslösen kann. Der Stoff ist ein gefundenes Fressen für all die selbsternannten "Staatsfunk"-Kritiker in den Sozialen Medien. "Darf man das?" – Auch Sophie Seitz, die zuständige Redakteurin des WDR, sagt, sie habe sich das zunächst gefragt: "Eine Tragödie, die Millionen Menschen betrifft, die stets aufs Neue Politik, Wirtschaft und Medien beschäftigt, umdrehen und Europäer auf eine fiktive Flucht nach Süden schicken? Ist das schon 'Whitewashing' oder noch öffentlich-rechtliches Fernsehen? Wir glauben: Letzteres, ja unbedingt. Auch dieser Film ist ein Beitrag zur Meinungsbildung: die anonymen Schicksale von Menschen anderer Sprache und Hautfarbe erfahrbar(er) zu machen, indem man den Blickwinkel umkehrt." Keine Frage, wichtig und richtig ist der durchaus berührende Film, der mit dem Rechtsruck und den Fluchtursachen zwei der dringlichsten Themen unserer Zeit aufgreift.

Eigentlich wollten die ARD-Verantwortlichen im Anschluss bei "Maischberger" ab 21.45 Uhr die Perspektive des Films im Zusammenhang mit der Realität der Geflüchteten in Europa besprechen. Kurzfristig wurde diese aus aktuellem Anlass jedoch verworfen. Stattdessen heißt es bei Sandra Maischberger nun: "Das GroKo-Drama: Zerlegen sich die Volksparteien?"


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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