Interview zum 70. Geburtstag

Wolfgang Niedecken: "Alle sollen da sein und mich in Ruhe lassen"

von John Fasnaugh

Im Interview zum 70. Geburtstag erklärt BAP-Sänger Wolfgang Niedecken, wieso er 1976 über eine 93-jährige Seniorin sang, warum die BAP-Geschichte umgeschrieben werden muss und warum er Angela Merkel nicht um ihren "Sack Flöhe" beneidet.

Am 30. März abends auf der Bühne der Kölner Lanxess-Arena stehen und mit knapp 20.000 Fans den runden Geburtstag feiern, das war eigentlich der Plan. Pech gehabt, Corona sagt nein. Aus der großen Sause zum 70. von Wolfgang Niedecken soll nun mit genau einem Jahr Verschiebung, dann also am 30. März 2022, eine "70+1"-Party werden. Aber gar nichts machen in diesem Jahr, das geht nicht. Niedecken präsentiert den Fans sozusagen als Ersatzbefriedigung eine Geburtstagsedition des aktuellen BAP-Albums "Alles fließt", für die er die Bonus-EP "Sibbe Köpp / Veezehn Häng" (Sieben Köpfe / Vierzehn Hände) zusammenstellte. Zu hören sind darauf einige "Raritäten aus der Vorzeit", für die Niedecken seine Aktenordner von ganz früher durchwühlte. Warum die BAP-Geschichte nun umgeschrieben werden muss, erklärt er im Interview.

prisma: Im Song "Leev Frau Herrmanns", den Sie 1976 schrieben und nun auf der Geburtstagsedition von "Alles fließt" veröffentlichen, geht es um eine 93-jährige Besucherin einer Altentagesstätte. Wie kommt ein junger Musikus, wie Sie damals einer waren, zu einem Titel, der so unsexy ist?

Wolfgang Niedecken (lacht): Das ist eben ein Lied, das ich zuletzt nach 45 Jahren in meinem Archiv wiederfand, und ich dachte "Hoppla!", als es mir in die Hände fiel. Ich war immer der festen Überzeugung gewesen, dass ich 1977 meine ersten BAP-Stücke geschrieben hatte, aber als ich die beiden Zahlen aus "Frau Herrmanns" zusammenzählte, 93 und 1883, kam 1976 heraus. Das war tatsächlich mein erster kölscher Text!

prisma: Und wer war diese Frau Herrmanns?

Niedecken: Ich kannte Frau Herrmanns aus meiner Kindheit. Damals stand sie immer mit ihrer kleinen Bude auf den Kirmessen der Umgebung und verkaufte alles mögliche. Während meines Zivildiensts, als ich Essen auf Rädern ausfuhr, traf ich sie dann wieder. Wir haben damals nachmittags in der Altentagesstätte mit den Oldies Karten gespielt, gebastelt, gemalt. Manchmal brachte ich auch meine Gitarre mit und wir sangen Karnevalslieder, und dann habe ich unserer "Lieblingsoma" Frau Herrmanns eben auch dieses Geburtstagsständchen vorgetragen. Das fanden natürlich alle sensationell.

prisma: Und dann geriet der Song trotzdem für über vier Jahrzehnte in Vergessenheit ...

Niedecken: Ich hatte ihn danach einfach abgeheftet. Das war zu einer Zeit, als wir mit der Band noch gar nicht kölsch sangen. Wir waren damals einfach eine Feierabendband, mit der wir die Kinks oder die Stones coverten und dazu dann einen Kasten Bier leerprobten – und das war's. Damals hatten wir nicht den Plan, dass daraus wirklich mal etwas werden sollte.

prisma: Für die Geburtstagsedition von "Alles fließt" haben Sie intensiv die Archive durchwühlt. Wonach suchten Sie da eigentlich, und haben Sie es gefunden?

Niedecken: Generell hatten wir einfach nach einer Idee gesucht, was wir statt des geplanten Geburtstagskonzerts in der Lanxess-Arena machen könnten. Dann schlug jemand von der Plattenfirma eine Geburtstagsedition vom aktuellen Album vor. "Gute Idee", dachte ich, "aber wie macht man so eine Geburtstagsedition?" Es wurden dann verschiedenste Pläne entworfen, und weil ich "Frau Herrmanns" davor schon gefunden hatte, entschieden wir uns unter anderem für diese Raritäten-EP "Sibbe Köpp / Veezehn Häng". Daraufhin suchte ich dann gezielt nach den ganz frühen Sachen und fand erfreulicherweise auch den allerersten Dylan-Song, den ich je übersetzt habe, "Wo dä Nordwind weht" (nach "Girl From The North Country", Anm. d. Red.) – auch ein Song, der bisher nie auf irgendeinem Album erschienen war.

prisma: Sie sprachen die Anfangstage von BAP schon an. Können Sie sich an den allerersten Auftritt mit der Band erinnern?

Niedecken: Ja, sehr gut sogar. Das war ein Auftritt im Juli 1977 im Mariensaal in Köln-Nippes gegen den geplanten Bau der Kölner Stadtautobahn. Christian Maiwurm, mit dem ich damals studierte, hatte uns dazu überredet – wir wollten eigentlich gar nicht. Wir sagten "Lass sein! Erstens sind wir nicht gut und zweitens haben wir überhaupt keine Anlage für so was". Christian ließ aber nicht locker und versprach, sich um die Anlage zu kümmern. Als wir dann da ankamen, war es Essig mit der Anlage. Wir traten schließlich zu dritt mit zwei Akustikgitarren und ein paar Congas auf. Aber irgendwie haben wir dann doch Blut geleckt und beschlossen, so etwas jetzt öfter zu machen.

prisma: Und als es dann mehr wurde: Mit welchen Vorstellungen oder Ambitionen stand der junge Wolfgang Niedecken damals auf der Bühne? Ging es um die Mädchen?

Niedecken: Ach was, nein! Ich lebte damals ja schon als freischaffender Maler und hatte einige Ausstellungen in guten Galerien. Das funktionierte gut, aber je mehr kölsche Songs ich schrieb, desto mehr Spaß hatte ich an dieser Sache. Die ersten Auftritte hatten wir damals in unserer Stammkneipe, dem Chlodwig-Eck in der Kölner Südstadt, und da kam viel zurück vom Publikum. Weil wir mit der Band eigentlich noch nicht so weit waren, trat ich dann öfter auch mal alleine auf.

prisma: Wie prägend waren diese Kneipenauftritte für Sie als Musiker?

Niedecken: Ich habe dort auf jeden Fall viel gelernt. Zum Beispiel, dass die Leute immer dann genau zuhörten, wenn es etwas Lustiges gab, und sobald ich dann wieder etwas Trauriges sang, drehten sie sich um und tranken weiter ihr Bier. Deswegen waren die meisten Lieder dieser Zeit, die dann auch auf dem ersten Album landeten, satirische Stücke, und davon konnte ich dann auch gut leben.

prisma: Und dann wurde BAP zu einer der erfolgreichsten deutschen Bands aller Zeiten – eine Kölschrock-Band, die von Kiel bis Wien gefeiert wird. Gab es mal einen Zeitpunkt, als Sie sich fragten: "Warum wir?"

Niedecken: Am Anfang haben wir das natürlich überhaupt nicht verstanden. Wir dachten "Okay, wenn die meinen, wir sollen in Hannover auftreten, machen wir das halt". Dann kommen wir nach Hannover, spielen da und das Publikum singt alles mit. Das war schon verblüffend. Die Einstellung damals war dann eigentlich: Mal gucken, wie lange das gut geht.

prisma: Und es geht bis heute gut.

Niedecken: Was einfach großartig ist – auch, dass wir das über all die Jahre durchgehalten haben. Es gab natürlich immer andere Meinungen und auch Musiker, die aufgrund der kölschen Texte aus der Band ausstiegen, weil so natürlich keine Chance auf internationalen Erfolg bestand. Da waren Strömungen, die gerne unter Umgehung des Hochdeutschen direkt auf Englisch gesungen hätten, aber das war mit mir halt nicht zu machen.

prisma: Wenn Sie sich am Anfang noch darüber wunderten, dass BAP auch außerhalb von Köln funktionierte: Haben Sie heute eine Erklärung dafür?

Niedecken: Ich glaube, die Leute haben erkannt, dass wir nicht kalkulieren oder einem Zielpublikum entsprechen wollen. BAP ist sehr authentisch, und das Authentischste an uns ist natürlich die Sprache. Abgesehen davon hat das Publikum auch immer sehr schnell kapiert, dass wir nicht auf das Klischee Köln festgelegt sind – was wir machen, hat ja mit Karneval überhaupt nichts zu tun.

prisma: Und die Musikindustrie? Wie lange haben die Plattenfirmen Sie genervt und versucht, Ihnen das Kölsche auszutreiben?

Niedecken: Zum Glück haben die gar nicht genervt. Unsere ersten beiden Platten brachten wir über ein kleines Indie-Label heraus, und wir wechselten dann nur, weil die keinen vernünftigen Vertrieb hatten. Da lief nur einer mit einem Musterkoffer durch die linken Buchläden und mehr nicht, das war eine Katastrophe. So gingen wir dann eben zu EMI, was wir auch nie bereuten. Zu dem Zeitpunkt waren wir aber im Kölner Umfeld schon eine Macht. Da war bei der Plattenfirma dann keiner mehr so doof zu sagen: "Macht jetzt mal auf Hochdeutsch!"

prisma: Und Englisch wäre auch nie infrage gekommen?

Niedecken: Nein, ich hätte mich ja selbst verüberflüssigt. Es gab immer Leute, die deutlich besser singen konnten, jünger waren und auch mehr Massenwirkung entfalten konnten. Aber dafür stehe ich mit den Texten, die ich singe, ziemlich alleine da. So habe ich ein Unterscheidungsmerkmal. Warum sollten wir uns dessen selbst berauben? Das hielt ich immer für vollkommen dämlich.

prisma: Kürzlich wurde bekannt, dass das für Ihren 70. Geburtstag geplante Konzert in Köln um genau ein Jahr verschoben wird, dazu sollen vorher noch drei Warm-up-Auftritte in Hannover, Bielefeld und Münster stattfinden. In einer Phase der Pandemie, in der die dritte Welle rollt und wieder alles abgesagt wird: Haben Sie nicht auch ein wenig Bauchschmerzen, genau jetzt neue Konzerte anzukündigen?

Niedecken: Wir haben uns ja in all den Monaten sehr lange zurückgehalten mit Ankündigungen, und ich bin auch niemand, der Leute immer wieder vertrösten will. Mit der Verschiebung um ein Jahr halte ich die Wahrscheinlichkeit schon für sehr groß, dass man dann auch tatsächlich spielen kann.

prisma: Wann erwarten Sie denn die Rückkehr zu "richtigen" Konzerten?

Niedecken: Derzeit gehe ich davon aus, dass spätestens im Herbst, wie es die Kanzlerin so schön sagt, jedem Menschen ein Impf-Angebot gemacht werden kann. Die Bauschmerzen, klar, sind irgendwo da, und vor dem Hintergrund der jetzigen Entwicklung ist eine Tour-Ankündigung nicht besonders günstig, das ist mir schon klar. Wenn es im Herbst immer noch schlimm aussieht, dann wird man vielleicht auch wieder verschieben müssen. Aber aktuell sehe ich gute Chancen und wir sagen erst einmal: "Komm, da gehen wir durch, das wagen wir jetzt einfach."

prisma: Geht es auch darum, den Fans eine "Perspektive" zu bieten oder zumindest irgendetwas, worauf sie sich freuen können?

Niedecken: Das wäre natürlich ein wunderbarer Nebeneffekt.

prisma: Bislang lief die Impfkampagne leider nicht so, wie von der Kanzlerin und den Ministern vorgesehen. Was trauen Sie der Politik ganz allgemein zu, wenn es um den Umgang mit der Pandemie in den nächsten Monaten geht?

Niedecken: Die Wahlen kommen natürlich zur Unzeit, und ich würde mir wünschen, dass die Politiker sich nicht so sehr darauf ausrichten, aber es ist natürlich klar: Der Überbringer der schlechten Nachricht wird bestraft. Insofern sind die anstehenden Wahlen schon ein echter Klotz am Bein, was die Corona-Politik betrifft. Sich für einen strikten Lockdown auszusprechen, auch wenn er notwendig ist, das traut sich irgendwann niemand mehr aus Angst, Stimmen zu verlieren.

prisma: Sind wir manchmal zu streng mit der Politik? Oder nicht streng genug?

Niedecken: Nein, wir sind überhaupt nicht zu streng. Allerdings beneide ich die Kanzlerin derzeit auch nicht: All die Ministerpräsidenten, das gleicht einem Sack Flöhe – wie willst du die hüten? Am Anfang zogen alle noch an einem Strang, da merkte man "Hoppla, das muss aber wirklich ernst sein", aber jetzt verläuft es sich wieder bei einem Thema, wo eigentlich nach wie vor alle dringend zusammenarbeiten müssten.

prisma: Zuletzt tourten Sie mit BAP 2019. Wie halten Sie sich fit für die Konzerte, die dann hoffentlich im Frühjahr 2022 stattfinden?

Niedecken: Ich versuche natürlich, gesund zu leben, mich vernünftig zu ernähren und Sport zu treiben. Ich sitze jeden Morgen eine Stunde lang auf dem Heimtrainer, fahre da meine knapp 30 Kilometer und trete richtig in die Pedale, damit ich auch ins Schwitzen komme.

prisma: Und dazu hören Sie BAP-Musik.

Niedecken: Nein, ich schaue dann nebenbei Sachen auf dem Tablet, das ist wunderbar.

prisma: Was läuft dann zum Beispiel? Serien?

Niedecken: Ja, aber nur welche, die ich auch geschmacklich vertreten kann. Wenn es nicht zu lange dauert, wenn nicht alles durchdekliniert wird und nicht jeder mal der Gute und der Böse war – das wird mir dann zu doof. "Fargo" ist toll. Meine absolute Lieblingsserie war aber "The Sopranos". Als die zu Ende war, habe ich sehr gelitten (lacht).

prisma: Wenn Sie nun zum runden Geburtstag in den Spiegel blicken und sagen "So sieht es also aus nach 70 Jahren", wie fällt die Bilanz aus?

Niedecken: Och, ich bin eigentlich sehr zufrieden, vor allem wenn ich überlege, was innerhalb der letzten zehn Jahre noch alles passiert ist. Zum Beispiel der Schock mit dem Schlaganfall (2011, d. Red.), den ich ja hervorragend überstanden habe, ohne dass irgendetwas zurückgeblieben wäre. Dann habe ich auch die Band noch einmal gründlich umbesetzt, was der Gruppe sehr gutgetan hat. Was wir in diesen Jahren an Tonträgern herausbrachten, darunter zwei Soloplatten, das Album in Woodstock und das Familienalbum in New Orleans, die Unplugged-Tour – zwei reguläre Studio-Alben und ein Live-Album, das kann gerne auch noch eine Zeit lang so weitergehen.

prisma: Als Maler, Musiker und Autor hatten Sie ein sehr erfülltes Künstlerleben, nicht nur in den letzten zehn Jahren. Denkt ein Wolfgang Niedecken manchmal auch an die Dinge, die er nicht geschafft hat?

Niedecken: Nö, dies oder jenes ging dann halt einfach nicht. Ich neige ohnehin zum Verzetteln, aber das ist mir bewusst. Ich betreibe viele Dinge mit großer Leidenschaft, aber ich habe irgendwann auch einsehen müssen, dass man nicht immer alles haben kann.

prisma: Und wenn Sie am 30. März also nicht auf der Bühne der Lanxess-Arena stehen, was ist stattdessen geplant?

Niedecken: Da wird dann nur im engsten Familienkreis gefeiert. Die Kinder kommen, das Enkelkind, und dann wird es so laufen, wie ich es sowieso immer am liebsten habe: Alle sollen da sein und mich in Ruhe lassen (lacht).

prisma: Auf der neuen EP "Sibbe Köpp / Veezehn Häng" gibt es auch einen Song, "Et letzte Leed", den Sie in den 80-ern manchmal als allerletzte Zugabe spielten. Angenommen, Sie müssten einen Niedecken-Sampler ohne BAP-Musik zusammenstellen, was wäre da das allerletzte Lied?

Niedecken (denkt kurz nach): Beatles, "The Long And Winding Road"!


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

Das könnte Sie auch interessieren