Filmemacher im Interview

Können wir noch fair streiten? Hans Jakob Rausch über seine "Story im Ersten"

06.03.2022, 17.33 Uhr
von Maximilian Haase

Die Diskussionsfronten scheinen immer mehr verhärtet, das zeigt sich zum Beispiel beim Klimawandel und der Corona-Pandemie. "Können wir noch fair streiten?", fragt Hans Jakob Rausch in einer neuen ARD-Doku. Welche Antworten er finden konnte, berichtet der Journalist im Interview.

Ob es um die Coronapandemie geht oder um die Klimakrise, ob um Geflüchtete oder Geimpfte: Einigkeit scheint in den deutschen Debatten seit einiger Zeit nur darüber zu herrschen, dass Empörung und Eskalation zunehmen. Doch was hat es mit der Veränderung der hiesigen Diskussionskultur und der viel zitierten Spaltung der Gesellschaft wirklich auf sich? "Können wir noch fair streiten?", nimmt sich eine aktuelle "Story im Ersten" (Montag, 7. März, 22.50 Uhr, ARD) des Themas nun an. Anhand eindrücklicher Beispiele illustriert Filmemacher Hans Jakob Rausch in seiner Reportage, wie sich Streits mehr und mehr zuspitzen – vom Shitstorm bis zur Morddrohung, sei es online oder von Angesicht zu Angesicht. Was er bei den Recherchen über die Ursachen der "Empörung um jeden Preis" erfuhr, was Medien und Ökonomie damit zu tun haben und welche Lösungsansätze es gibt, erklärt der NDR-Journalist im Interview.

prisma: Wie kamen Sie dazu, sich des komplexen Themas der aktuellen Diskussionskultur zu widmen?

Hans Jakob Rausch: Das Thema schwelt ja schon seit einiger Zeit. Es hat mich auch persönlich beschäftigt, weil ich gesehen habe, wie hoch die Erregung in der Öffentlichkeit bei vielen Themen in den letzten Jahren geworden ist.

prisma: Liegt das an der viel zitierten Spaltung der Gesellschaft?

Rausch: Der Begriff "Spaltung" ist umstritten, weil er suggeriert, dass es eine 50:50-Aufteilung gäbe. Das ist sicherlich nicht so, das merken wir ja auch beim Thema Corona. Andererseits: Ein Teil der Gesellschaft fühlt sich nicht mehr gehört. Und dieser Teil hat den Eindruck, auch in den Medien zu wenig vorzukommen. Das erzeugt sicherlich Frustration.

prisma: Muss man die etablierten Medien dafür kritisieren?

Rausch: Es gibt durch die veränderte Gesellschaftsstruktur einen viel größeren Meinungspluralismus. Den abzubilden, ist eine enorme Herausforderung. In den 90er-Jahren wurde zum Beispiel über Migranten völlig anders diskutiert – weniger differenziert. Konservative Mittelschichten dagegen finden heute nicht mehr den Widerhall, den sie früher hatten. Insofern hat sich da etwas getan. Das sind schmerzhafte Brüche und Verluste.

prisma: Andererseits haben die sozialen Netzwerke die Möglichkeiten dahingehend ja verändert ...

Rausch: Ja, sie schaffen einen riesigen Raum an Öffentlichkeit für den Einzelnen, das gab es in dieser Form nie zuvor. Die Gatekeeper-Funktion der Medien fällt weg, jeder kann jetzt potenziell ein Millionenpublikum erreichen. Aber es ist ein Paradox: Das Internet führt zu einer Demokratisierung – und gleichzeitig haben die Menschen das Gefühl, weniger Meinungsfreiheit zu haben.

"Am Stammtisch war alles viel homogener"

prisma: Warum ist das so?

Rausch: Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun erklärt es in meinem Film so: Wenn jedes geäußerte Wort mit Argusaugen betrachtet wird und Widerspruch hervorruft, dann sorgt das natürlich für ein subjektives Gefühl der eingeschränkten Meinungsfreiheit. Die Widerspruchsfreiheit im privaten Raum ist im Netz genommen. Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, den ich im Film interviewe, widerspricht in diesem Zusammenhang übrigens der Filterblasen-Theorie. Er sagt, die Menschen seien deswegen so gereizt, weil sie jeden Tag mit unglaublich vielen Meinungen konfrontiert werden – von Impfgegnern und Impfbefürworter, AfD-Anhänger und AfD-Gegnern und so weiter. Das alles auf einem einzigen Kanal führt nach Pörksens Einschätzung zu einer großen Gereiztheit. Ein Clash vieler Ideologien, den man erst einmal aushalten muss. Das war früher nicht so. Am Stammtisch war alles viel homogener.

prisma: War die Diskussionskultur früher besser, wie manche behaupten?

Rausch: Ich zeige es im Film in einer historischen Rückschau: Auch früher schon wurde rabiat gestritten und kein Blatt vor den Mund genommen. Ich glaube, es gibt im Blick zurück bisweilen eine Nostalgie. Nach dem Motto: "Damals wurde noch mit ehrlichen Worten gestritten." Man redet sich die Vergangenheit manchmal schön. Denn auch die damals waren unglaublich hart – man denke an die Demos gegen die AKWs und die NATO-Aufrüstungspolitik in den 80er-Jahren.

prisma: In Ihrem Film zeigen Sie am Beispiel eines Dorfes, wie Konflikte heute spalten können.

Rausch: Der Mikrokosmos Dorf vereint viele Dinge auf engstem Raum – in diesem Fall fand ich vor allem auch den Streit innerhalb von Familien interessant. Und dann die von außen kommenden Klimaaktivistinnen und -aktivisten im Konflikt mit Männern eines Typus, die vielleicht nicht mehr die Rolle spielen, die sie noch vor 20 Jahren hatten. Das führt sicher auch zu einer Art Frustration, die einen Gesprächsabbruch mit sich bringen kann. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass die alte Mittelschicht – patriarchal organisiert, mit mittleren Bildungsabschlüssen – an Relevanz verloren hat.

prisma: Oft wird gesagt, dass Corona bestehende Konflikte nur beschleunigt hat. Ist der eigentliche Inhalt des Streits heute zweitrangig?

Rausch: Corona war für viele gesellschaftliche Verwerfungen ein Beschleuniger. Für die soziale Ungleichheit, aber auch für die Radikalisierung von Bürgerinnen und Bürgern, die vorher nie auffällig waren. Die können sich heute beispielsweise Waffen aus dem 3D-Drucker bauen. Die einzelnen Konflikte sind Beschleuniger einer gesellschaftlichen Polarisierung und verhärten Fronten. Aber: Es sind immer unterschiedliche Konfliktlinien. Wer in einer Debatte auf der einen Seite steht, kann bei einem anderen Thema völlig unterschiedlicher Meinung sein.

prisma: In Ihrem Film kommen auch bekannte Vertreter sogenannter "alternativer" Medien zu Wort. Hatten Sie Zweifel, diese Stimmen mit einzubringen?

Rausch: Ich hatte dahingehend keine Sorge, so ein Interview erfordert – wie auch bei anderen – eine genaue Vorbereitung. Es gibt ja auch immer wieder die Debatte, ob man Rechtspopulisten zu Wort kommen lassen soll oder nicht. Ich bin der Überzeugung, dass man sie interviewen sollte. Die Frage ist, wie man das tut: Es sollte nicht kontextlos und ohne Einordnung geschehen. Ich denke, dass rechtspopulistische Journalisten einen Anteil an der Situation haben. Das merkte man in der Coronapandemie deutlich. Diese Journalistinnen und Journalisten missbrauchen, so sagt es der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Film, das journalistische Ideal des Zweifelns, um Verwirrung zu stiften.

Nicht für das Offensichtliche blind werden

prisma: Können Sie das ausführen?

Rausch: Man sieht das am Klimawandel: 99 Prozent aller ernstzunehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen, dass es den Klimawandel gibt. Nun ist es zunächst eine journalistische Tugend, auch auf das restliche eine Prozent zu schauen. Verliert man dabei aber die 99 Prozent völlig aus dem Blick, ist das wieder eine journalistische Untugend. Nur weil man kritisch ist und eine vorherrschende Meinung hinterfragt, darf man nicht gleichzeitig für das Offensichtliche blind werden.

prisma: Kann weitere mediale Aufklärung helfen? In Ihrem Film porträtieren Sie einen Arzt, der nach einem öffentlichen Auftritt zahlreiche Morddrohungen von der Impfgegner-Seite erhalten hat. Glauben Sie, dass es nützlich ist, wenn er nochmals an die Öffentlichkeit tritt?

Rausch: Er hat sich dafür entschieden, weil er es wichtig fand, darauf hinzuweisen, welche Folgen das hat. Zahlen belegen ja, dass es immer mehr Morddrohungen etwa gegen Ärzte und Politiker gibt. Ich bin da aber optimistisch. Ich glaube, dass eine ausführliche Betrachtung seiner Perspektive über die tagesaktuelle Berichterstattung hinaus helfen kann, Verständnis und Empathie zu schaffen. Die Drohmails vorzulesen, kann vielleicht helfen, das Ausmaß des Hasses anschaulich zu machen und letztlich die Wogen glätten.

prisma: Was können wir, abschließend, also gegen die weitere Verhärtung der Fronten in der Debatte tun?

Rausch: Die von mir interviewten Experten sagen: Man muss sich in einer Demokratie damit anfreunden, dass es Streit gibt und dass Polarisierung zu einem gewissen Ausmaß dazugehört. Es ist vollkommen richtig, wenn sich unterschiedliche Interessen gegenüberstehen. Man soll sich nicht in ein vermeintliches Paradies hinein fantasieren, in dem alle einer Meinung sind. Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun sagt: "Dass es Gegner gibt, ist unvermeidlich. Dass aus ihnen aber keine Feinde werden, ist die große Herausforderung." Auch wenn mit der persönlichen Betroffenheit die Emotionen überhandnehmen. Ich denke, wenn man diese Mechanismen in einem Film zeigt und erklärt, kann das helfen, sich selbst und die Gesellschaft besser zu verstehen.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH
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