Krimi-Kritik

"Polizeiruf 110: Tu es!": Wie war der düstere ARD-Krimi mit Anneke Kim Sarnau?

21.10.2025, 09.00 Uhr
Der 30. Fall des Rostocker "Polizeiruf 110" beleuchtet mit schmerzhafter Authentizität die moralischen Verwerfungen des Internets und gesellschaftliche Abgründe.

Abgründige Familiengeschichten, erschütternde Schicksale und eine kompromisslose Schärfe: Der Rostocker „Polizeiruf 110“ hat sich schon immer deutlich vom üblichen Sonntagabend-Krimi abgehoben. Auch Fall Nummer 30, „Tu es!“, bleibt diesem Ruf treu – als packendes Lehrstück über digitalen Zynismus und die Widersprüche unserer Gesellschaft. Nach einem brutalen Mord und zwei Suiziden geraten Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Melly Böwe (Lina Beckmann) mitten hinein in die moralischen Abgründe des Netzes, die seelischen Verwerfungen des Bildungssystems – und in ihre ganz persönlichen Kämpfe. Wer auf klare Täterbilder und einfache Antworten hofft, wird auch diesmal – zum Glück – nicht fündig.

ARD
Polizeiruf 110: Tu es!
Kriminalfilm • 19.10.2025 • 20:15 Uhr

Darum ging's im Polizeiruf am Sonntag

Ein junger Mann sticht eine Frau nieder und nimmt sich anschließend selbst das Leben. Für die Ermittlerinnen wirkt der Fall zunächst völlig unverständlich: Zwischen Täter Leon Schilling (Karl Seibt) und seinem Opfer, einer Managerin, existiert keinerlei Verbindung. Der einzige Hinweis ist eine kurze Botschaft auf Schillings Handy: „Tu es!“ – verschickt von Felix Lange (Sebastian Jakob Doppelbauer). Der engagierte Lehrer scheint auf den ersten Blick ein Idealist mit ausgeprägtem Helferdrang. Doch bald stellt sich die Frage: Nutzt er verletzliche Jugendliche bewusst aus, treibt sie in Online-Foren in den Tod? Denn schon zuvor hatte er Kontakt zu einer jungen Frau, die sich das Leben nahm.

Doppelbauer spielt Lange herausragend ambivalent am Rande des Nervenzusammenbruchs, zwischen pädagogischem Idealismus und mentaler Verwahrlosung: Man weiß nie genau, ob hinter der Fassade ein berechnender Psychopath steckt, ob er Täter oder Opfer ist, Dies fordert auch die Geduld und Empathie des Zuschauers heraus. Lange ist Symptom einer Gesellschaft, die ihre idealistischen Akteure verheizt.

Die Probleme mit dem deutschen System

"Wir stehen unter Druck. Wir haben nichts", gestehen die Ermittlerinnen. In einer Welt voller digitaler Masken und toxischer Chatidentitäten bleibt der Polizei nur Ratlosigkeit – und ein schmerzhaft realistisches Eingeständnis: Anstiftung zum Suizid ist in Deutschland kein Straftatbestand. Das Internet, so Darstellerin Lina Beckmann, wirke dabei "wie ein riesengroßes schwarzes Loch, und der Polizei fehlen die Mittel, es zu durchleuchten". Dass sich obendrein der schmierige Staatsanwalt Jan Jürgens (Thorsten Merten) einmischt, macht die Sache kaum einfacher ...

Der Film lehnt sich an reale Fälle an. Drehbuchautor Florian Oeller ließ sich unter anderem von einem Strafprozess gegen einen Suizid-Anstifter inspirieren, recherchierte selbst in einschlägigen Foren. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie viel Verantwortung trägt jemand, der nicht tötet, aber andere dazu bringt?

Daneben zeichnet der Krimi ein realistisches Bild von digitaler Verlorenheit. Jugendliche suchen Hilfe in anonymen Foren, weil sie sie im echten Leben nicht bekommen. "Absolut gruselig", kommentiert Anneke Kim Sarnau diese Zustände. Lehrer wie Lange wollen helfen, brechen aber unter dem Druck zwischen Personalmangel und Überforderung zusammen. Und das ist nicht nur in der Bildung Realität – auch im Pflegeheim, in dem Langes Mutter lebt, fehlt es an allem; Personal, Geduld, Würde.

Diagnostiziert, aber nicht aufgefangen

Die Sprache ist hart, roh, aber ehrlich. "Ist das Ihr verfickter Ernst gerade?", schreit Chef Röder (Uwe Preuss) in einer Szene. In dieser Tonalität spiegelt sich eine Gesellschaft, in der psychisch kranke Jugendliche diagnostiziert, aber nicht aufgefangen werden. In der Lehrer untergehen, Eltern ausnüchtern müssen, Pflegekräfte verzweifeln und die politische Debatte längst im Zynismus versackt ist. "Scheiß auf die Nazis, die alten und die neuen, scheiß auf die Guten, die sich mit Identitätspolitik einen runterholen", rantet Protagonist Leon entsprechend wütend in die Kamera: "Ich hoffe auf die Atombombe."

"Eigentlich wird die Welt jede Sekunde komplexer, aber wir versuchen alle die ganze Zeit, so zu tun, als wüssten wir, wovon wir reden", kommentiert Regisseur Max Gleschinski. Es störe ihn, "wenn man den Krimi als Eskapismus-Format missbraucht", so der 1993 in Rostock geborene Autodidakt. Er glaubt: "Das muss wehtun, das muss uns in eine echte Auseinandersetzung bringen mit der Welt."

Auch die Kommissarinnen werden gefordert

Auseinandersetzen bis es wehtut müssen sich auch König und Böwe – nicht nur mit dem Fall, sondern auch mit ihren persönlichen Grenzen und ihrem eigenen Verhältnis. Zum ersten Mal nähern sie sich an, oder wie Anneke Kim Sarnau sagt: "Das Level des Misstrauens ist so niedrig wie nie." König öffnet sich auch gegenüber ihrem Vater, der sinnbildlich "den Kaktus umarmen" will.

Böwe, die als Nachfolgerin ihres Halbbruders Sascha Buckow (Charly Hübner) längst etabliert ist, befindet sich derweil emotional am Limit. Sie will ihrer entfremdeten Tochter sagen, dass deren Vater ein Vergewaltiger war – weiß aber nicht, wie. Lina Beckmann spielt das mit atemberaubender Intensität – oft schwitzend, heulend, schreiend im Auto.

Lohnt sich der "Polizeiruf 110: Tu es!"?

Der "Polizeiruf" fordert Aufmerksamkeit, Geduld und die Bereitschaft, sich mit gesellschaftlichen Abgründen auseinanderzusetzen. Er verzichtet auf Helden, bietet kluge Beobachtungen und eindringliche Figuren und einen Stil, der im Krimi-Einerlei auffällt. Sei es die außergewöhnliche Kamera, die auch einem Hollywoodthriller stünde, sei es der prominent platzierte Soundtrack zwischen Jazz, Drums und Sinatra, sei es die für einen deutschen Krimi ungewöhnliche Erzählweise – mit ambivalenten Verdächtigen, lange unklaren Motiven und gleich mehreren höchst aufregenden und actionreichen Showdowns.

Der Rostocker "Polizeiruf", so darf man inzwischen auch nach Charly Hübners Weggang locker konstatieren, gehört zu den besten Krimis im hiesigen TV. Gerade in diesen Zeiten. Oder, wie es Drehbuchautor Florian Oeller ausdrückt: "König und Böwe sind vielleicht nur ein zartes Licht in einer dunkler werdenden Welt, aber sie leuchten dennoch."

"Polizeiruf 110: Tu es!" lief am 19. Oktober in der ARD und ist aktuell in der Mediathek verfügbar.

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Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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