"Tatort: Verblendung": Verblendung - Geiseldrama im Kinosaal












Im "Tatort: Verblendung" sehen sich die Kommissare Bootz (Felix Klare) und Lannert (Richy Müller) einem brisanten Geiseldrama im Stuttgarter Kino gegenüber. Rechtsradikale Terroristen fordern die Freilassung ihrer Gesinnungsgenossen und drohen mit drastischen Maßnahmen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Manchmal haben scheinbar kleine Entscheidungen im Leben gigantische Wirkung. Zum Beispiel im Stuttgarter "Tatort: Verblendung", in dem Thorsten Lannert (Richy Müller) seinen Partner Sebastian Bootz (Felix Klare) zu Beginn der Handlung darum bittet, für ihn zu einer Filmvorführung zu gehen. Staat und Polizei haben zu einem Event geladen. Kaum hat die Vorstellung mit dem ein oder anderen prominenten Gast angefangen, verdunkelt sich die Leinwand. Zwei Geiselnehmer bedrohen die Kinobesucher mit ihren Waffen.
Es kommt zum Schusswechsel, ein Sicherheitsbeamter stirbt – immerhin können etliche Menschen aus dem Kinosaal fliehen. Beim Gefecht hat Sebastian Bootz einen der Geiselnehmer erwischt: Steffen Lippert (Christoph Franken) ist schwer verletzt. Doch er und seine Komplizin Karin Urbanski (Anna Schimrigk) denken nicht daran, aufzugeben. Ihre Forderung lautet: Rechtsradikale Gesinnungsgenossen sollen aus dem Gefängnis in Stuttgart-Stammheim freigelassen werden, weil sie auf einer geheimen Todesliste des Staates stünden.
Thorsten Lannert muss sein geplantes Date – auf dem Beifahrersitz seines Porsches liegen Blumen – absagen und zur improvisierten Einsatzzentrale eilen, in der seine Kollegin Farah Nazari (Leila Abdullah) das Sagen hat. Lannert wird zum Verhandler aufseiten der Polizei. Derweil muss Bootz mit einer eskalierenden "Stimmung" der Geiselnehmer umgehen, die zu allem bereit scheinen. Kann Bootz es schaffen, dass einige der Gefangenen gehen dürfen? Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, droht die Geiselnehmerin, in regelmäßigen Abständen Kinoinsassen zu töten. Auch ihr angeschossener Kollege muss dringend ins Krankenhaus, sonst verblutet er.
Draußen erforscht Lannert fieberhaft den Vorwurf der Rechten, ihre Leute stünden auf einer Todesliste des Staates. Gibt es den skrupellosen "Deep State", der seine Gegner heimlich tötet? Oder ist es eine wirre Verschwörungstheorie, der die Geiselnehmer aufsitzen?
Zwei Kommissare und eine Split Screen-Ermittlung
Was den neuen Fall aus der Feder des "Tatort"-erfahrenen Teams Katharina Adler und Rudi Gaul (auch Regie) von klassischen Geiselnahme-Thrillern unterscheidet, ist die etwas seltsame Forderung der Täter. Die drastische Aktion der rechten Terroristen ist in Fürsorge begründet. Ein Gefühl, das man im eigenen Wertesystem nicht gerne mit politischen Geiselnahmen verbindet. Tatsächlich ist einer der "Kameraden" in Stammheim – ein Gefängnis mit Geschichte – überraschend gestorben. Offiziell an einem allergischen Schock. Die Terroristen haben jedoch andere Informationen. Sie verlangen ein öffentliches Statement des Innenministers, dass ihre Kameraden systematisch getötet werden – und natürlich deren Freilassung. Auf einer Autofahrt Lannerts mit Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) analysiert der Rechtsmediziner das Szenario wie folgt: "Früher waren wir links mit radikaler Systemkritik. Heute ist man links, wenn man das System verteidigt."
Der Film von Adler und Gaul, die fürs Stuttgarter Revier die kluge Folge "Tatort: Videobeweis" erschufen und zuletzt für den KI-Ökothriller "Tatort: Borowski und das ewige Meer" verantwortlich zeichneten, erzählt zwei Dinge: zum einen im Inneren des Kinos die Dynamik einer Geiselnahme und zum anderen, außerhalb der in dunkelroten Farben gehaltenen Kinowelt, die Recherchen von Lannert und Co. zum Vorwurf der Rechten: Sieht die Realität tatsächlich so aus, wie sie die überzeugten Geiselnehmer zeichnen? Oder wollen sie einfach konsequent an jene Wahrheit glauben, die sie sich zurechtgebastelt haben? Erzählt wird oft im Split Screen-Verfahren, denn die Verhandler Lannert und Bootz haben in ihrem neuen Fall fast keine gemeinsame Screen-Time. Sie reden nur über das Verhandlungstelefon miteinander.
Der Trend, den Staat zu delegitimieren
Doch wie gut ist er nun, der Stuttgarter Nachfolger des sehr starken Landleben-Falles "Tatort: Lass sie gehen"? Dem mittlerweile abgegriffenen Genre des Geiselnahme-Thrillers fügt der Krimi kein weiteres Highlight hinzu. Was im Kino passiert, ist bestenfalls routiniert inszeniert. Zu Perlen des Genres wie Sidney Lumets "Hundstage" (1975) mit Al Pacino als Geiselnehmer fehlen zwei bis drei Qualitätsstufen. Interessanter, wenn auch nicht besonders reich an Action, ist das Geschehen jenseits der Kinokulisse. Adler und Gaul denken in ihrem Drehbuch über den aktuellen Trend nach, den Staat zu delegitimieren. Eine gängige Denkweise ist: Politiker sind Verbrecher und Drahtzieher eines Unrechtsstaates, Polizei und andere Behörden ihre willfährigen Gehilfen. Eine gefährliche, aber populäre Verschwörungstheorie, die beim eigenen Radikalisieren hilft. Ein wichtiges Thema, das der neue "Tatort" mit Lannert und Bootz auf zwei Bildschirmhälften ordentlich, aber erzählerisch auch nicht überragend umsetzt. Ein solider Fall aus Stuttgart, aber nicht mehr.
Tatort: Verblendung – So. 19.01. – ARD: 20.15 Uhr
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH