Die Entführung des Millionärs Jan Philipp Reemtsma zählt wohl zu den aufsehenerregendsten Verbrechen der deutschen Kriminalgeschichte. Hans-Christian Schmid erzählt in seinem eindringlichen Film aber nicht die Sicht des Entführten, sondern die seiner bangenden Familie.
33 Tage lang befand sich der Hamburger Millionär Jan Philipp Reemtsma 1996 in den Händen von Entführern, ehe sie ihn nach einer Zahlung von 30 Millionen D-Mark gehen ließen. Es ist wohl einer der spektakulärsten Entführungsfälle Deutschlands. Nicht nur aufgrund der Dauer, der Höhe des Lösegelds und weil die Medien sich bis zu Reemtsmas Freilassung ruhig verhielten, sondern auch wegen der vielen Fehler, die unter anderem von der Polizei gemacht wurden.
Reemtsma teilte seine Erfahrungen bereits 1997 in seinem Buch "Im Keller" mit der Öffentlichkeit. Sein Sohn Johann Scheerer, zum Zeitpunkt der Entführung 13 Jahre alt, schrieb erst 2018 nieder, wie er und seine Mutter Ann Kathrin Scheerer die Entführung erlebten. Seine Erinnerungen unter dem Titel "Wir sind dann wohl die Angehörigen" hat Regisseur Hans-Christian Schmid so behutsam wie eindringlich adaptiert – und der Film, jetzt bei ARTE zum ersten Mal im Free-TV, verdeutlicht: Auch Mutter und Sohn waren Opfer der Entführer.
"Johann, wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen. Jan-Philipp ist entführt worden." Diese Worte seiner Mutter wird Johann Scheerer (Claude Heinrich) niemals vergessen. Die Familie besitzt im feinen Blankenese zwei Häuser, wenige Meter voneinander entfernt. In einem befindet sich die Bibliothek des Literatur- und Sozialwissenschaftlers, von dort möchte Reemtsma am Abend des 25. März 1996 einige Bücher holen, als drei Männer ihn überwältigen. Wenig später findet seine Frau Ann Kathrin (Adina Vetter) einen Erpresserbrief und schaltet, entgegen der Forderung der Entführer, die Polizei ein. Mit der Privatsphäre ist es für Mutter und Sohn vorbei, als nicht nur nur zwei Angehörigenbetreuer der Polizei bei ihnen einziehen, sondern auch zwei Freunde der Familie: der Psychotherapeut Christian Schneider (Hans Löw) und der Rechtsanwalt Johann Schwenn (Justus von Dohnányi), der die Verhandlungen mit den Kidnappern führen soll.
Es folgt eine Zeit des Bangens und Wartens. Immer wieder kommt es zu Problemen und Missverständnissen, zwei Lösegeldübergaben gehen aufgrund von polizeilichen Fehlern schief. Die Briefe, die der Entführte seiner Familie schreiben darf, werden immer verzweifelter, auch bei der anfangs noch so rational wirkenden Ann Kathrin liegen die Nerven zunehmend blank. Ihr Sohn Johann, der sich im ohnehin verwirrenden Prozess der pubertären Identitätsfindung und Abnabelung befindet, beobachtet das Treiben der Erwachsenen im Haus teilweise wie ein Außenstehender.
"Bei manchen Sachen ist es einfach besser, wenn du das nicht weißt, das belastet dich nur", versucht Schneider ihn einmal zu beruhigen. "Wenn ich's nicht weiß, dann belastet es mich nicht? Woher wisst ihr eigentlich, wie ich ticke? Das wisst ihr doch gar nicht!", erwidert der Junge sichtlich wütend und verletzt. Am 27. April 1996 hat das Bangen schließlich ein Ende, Reemtsma wird nach einer erfolgreichen Lösegeldübergabe freigelassen und kann endlich nach Hause zurückkehren.
Zu dieser Zeit, im April 1996, befand sich Hans-Christian Schmid gerade mit seinem ersten Kinofilm "Nach Fünf im Urwald" auf Promotour, als er Reemtsma auf dem Cover eines Magazins sah. "Ich habe das wahrgenommen, aber nie gedacht, ich könnte das verfilmen", erinnert er sich in einem Interview mit der "taz". Bis sein Co-Autor Michael Gutmann ihm 2018 "Wir sind dann wohl die Angehörigen", die gerade erschienenen Erinnerungen von Johann Scheerer, ans Herz legte.
"Es war von vornherein klar, dass wir uns auf die Familiengeschichte konzentrieren", verriet Schmid dem NDR 2022 zum Kinostart der Verfilmung. "Wir haben bewusst versucht, die Möglichkeiten, bei denen man in Richtung Krimi hätte abzweigen können, nicht zu wählen." Ann Kathrin und Johann Scheerer, den Protagonisten, sei weniger die Werktreue wichtig gewesen, heißt es in Schmids taz-Interview, sondern dass "es psychologisch genau und nicht unterkomplex wird". Auch dass im Film kritische Töne angeschlagen werden, hätten die meisten Beteiligten akzeptiert, auch die beiden Angehörigenbetreuer. Schmid stellt aber klar: "Wir wollten niemanden in die Pfanne hauen, und ich glaube, das haben auch alle gespürt. Gleichzeitig wussten auch alle, dass es keine Heldengeschichte wird, weil alle Fehler gemacht haben, alles andere wäre verlogen."
"Wir sind dann wohl die Angehörigen" – Fr. 12.04. – ARTE: 20.15 Uhr