"Das Verschwinden": Im Sog der Provinz

von Franziska Pestonic

Eine junge Frau verschwindet aus einer Kleinstadt an der deutsch-tschechischen Grenze und versetzt ihre Mutter in große Sorge. Das Drama "Das Verschwinden", das der BR in vier Teilen zeigt, besticht durch eine subtile Spannung und eine überragende Hauptdarstellerin Julia Jentsch.

BR
Das Verschwinden
Serie • 10.09.2018 • 22:45 Uhr

Die 20-jährige Janine Grabowski (Elisa Schlott) verschwindet aus der niederbayerischen Kleinstadt Fürstenau. Ihre Mutter Michelle (Julia Jentsch) ist besorgt, dass der mittlerweile allein lebenden Tochter etwas passiert sein könnte. Die Polizei ermittelt zurückhaltend. Sie glaubt, dass die junge Frau der Provinz einfach den Rücken kehrte. Doch auch Janines Freundinnen, die drogenverstrahlte Manu (Johanna Ingelfinger) und die stille Laura (Saskia Rosendahl), machen sich Sorgen.

Kinozauberer Hans-Christian Schmid ("Requiem", "Was bleibt") erschuf 2017 mit seinem Drehbuch-Partner Bernd Lange ein soghaftes und sich in Sachen Spannung über sechs Stunden ständig steigerndes Krimi-Drama, das zu den TV-Highlights des vergangenen Jahres zählte. Das BR-Fernsehen zeigt "Das Verschwinden" nun an vier Montagen in Folge jeweils um 22.45 Uhr.

"Das Verschwinden" erzählt von vier Familien, die in Bayern nahe der tschechischen Grenze leben. Michelle, die nach ihrer nicht immer einfachen Tochter Janine fahndet, hat noch ein weiteres Kind: Evi besucht die Grundschule. Die Alleinerziehende arbeitet als mobile Altenpflegerin. Als sie Janine zur Welt brachte, war Michelle noch sehr jung. Über den Vater sagt sie nichts. Doch auch die Beziehung, der Evi entsprang, ist zerbrochen. Janine teilt sich die kleine Tochter mit ihrem Ex.

In Fürstenau kämpfen auch besserverdienende und komplette Familien mit Problemen. Die wohlhabenden Eltern Manus (Nina Kunzendorf, Sebastian Blomberg) verlieren immer mehr den Kontakt zu ihrem einzigen Kind. Während Laura, die Tochter des Handwerkers Helmut Wagner (Michael Grimm), stets mit dem stillen Leid ihrer chronisch kranken Mutter (Caroline Ebner) konfrontiert ist. Schließlich ist da noch die türkisch-deutsche Familie Karaman. Die Eltern (Vedat Erincin, Teresa Hader) betreiben einen Imbiss, doch Sohn Tarik (Mehmet Atesci) scheint diese Zukunftsvision nicht glücklich zu machen. Der eigentlich sensible Junge dealt mit Crystal Meth, das hinter der Grenze billig zu haben ist. Auch die drei Freundinnen Janine, Manu und Laura kauften bei ihm ein.

Drehbuch, Soundtrack und Bilder – hier stimmt alles

Wie Hans-Christian Schmid und Bernd Lange, der auch das bärenstarke Debüt "Tatort: Goldbach" aus dem Schwarzwald schrieb, ihr Figurenensemble einführen und den Zuschauer die leise Melancholie der Provinz spüren lassen – es kommt erst mal relativ unspektakulär daher. Doch mit dem stimmungsvollen Soundtrack der Band The Notwist und den starken Bildern von Kamermann Yoshi Heimrath ("Wir sind jung. Wir sind stark") entfacht "Das Verschwinden" eine seltsame Spannung, die einen nicht mehr los lässt.

Subtil werden Familienbeziehungen beleuchtet, nach und nach Geheimnisse entschlüsselt, ohne dass der Thrill dadurch nachlässt. Im Gegenteil: "Das Verschwinden" ist wie ein sehr langer Ausnahme-Song oder Techno-Track, der sich in seiner Intensität immer weiter steigert. Die Grundidee fand Hans-Christian Schmid, einer der besten psychologischen Erzähler des deutschen Films, in der Zeitung: In der bayerischen Provinz war einst eine junge Frau verschwunden, nach der nur die Mutter suchte. Später nahmen sich andere junge Menschen dort das Leben, die Rede war von "todessehnsüchtigen" Kindern aus der Provinz.

Aus dem tollen Ensemble, zu dem auch Martin Feifel und Stephan Zinner als Polizei-Ermittler gehören, ist die fantastische Leistung Julia Jentschs hervorzuheben. Die heute 40-jährige Schauspielerin, 2016 wurde sie für das Schwangerschaftsdrama "24 Wochen" auf der Berlinale gefeiert, spielt die Alltagsheldin Michelle so präzise und mitreißend, dass der Zuschauer irgendwann denkt, das eigene Kind wäre verschwunden.

Wenn in diesen Tagen über Qualitätsserien aus Deutschland geredet wird, ist man schnell bei Tom Tykwers 40-Millionen-Projekt "Babylon Berlin", das ab 30. September auch im Ersten ausgestrahlt wird. Hans-Christian Schmids "Das Verschwinden" ist keineswegs schlechter, nur eben ganz anders. Wo das Großprojekt mit optischer Opulenz und dem Eintauchen in eine brutal-mondäne Zeit punktet, kriecht Schmid wie kaum ein zweiter deutscher Filmemacher in die Köpfe und Seelen seiner Protagonisten. Deutsche Hauptstadt 1929 und bayerische Provinz 2017 – beides kann gleichermaßen spannend sein.

Die einzelnen Folgen sind ab Ausstrahlung jeweils 30 Tage in der BR Mediathek zu sehen.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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