"Eine deutsche Kindergeschichte" ist Michael Hanekes Cannes-Gewinner "Das weiße Band" untertitelt. Ein harmlos scheinender Titel für seine Studie über das Leben in Deutschland kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Aber harmlos ist im porträtierten Dorf in Vorpommern nichts: Es häufen sich mysteriöse Unfälle, Kinder werden gequält, Arbeiterinnen verbrennen. Dahinter steckt Methode: Kinder werden zu Monstern, weil sie von den Erwachsenen lernen.
Mit psychologisch-brutaler Raffinesse versucht Haneke die gesellschaftlichen Umstände zu erklären, die aus diesen Kindern später Nationalsozialisten machten. 3sat zeigt das für zwei Oscars nominierte und mit der Goldenen Palme in Cannes prämierte Meisterwerk aus dem Jahr 2009 erneut.
Haneke lässt einen Lehrer als Erzähler (Stimme: Ernst Jacobi) auftreten, der sich rückblickend an die Ereignisse zwischen den Sommern 1913 und 1914 erinnert. In artifiziell wirkenden schwarz-weißen Bilder wird ein Dorfleben gezeigt, das aus der Zeit genommen scheint. Was in diesen kunstvollen, statischen Tableaus passiert, ist weit weg vom Hier, vom Jetzt.
Doch die Bilder leben, denn Haneke ist erbarmungslos, fast schon perfide in seiner Autopsie der Gewalt. Im Dorf wird systematisch psychisch vergewaltigt, und die Misshandelten werden zu Misshandelnden. Dem Lauf der Dinge wohnt eine Unausweichlichkeit inne, die Haneke kühl und an der Oberfläche emotionslos darstellt.
Das protestantische Dorf, dessen Fixpunkte der Gutshof des Barons (Ulrich Tukur), das Schulhaus und der Dorflehrer (Christian Friedel), die Dorfkirche und der Pfarrer (Burghart Klaußner), sowie der Arzt (Rainer Bock) und die Hebamme (Susanne Lothar) sind, ist ein geschlossenes System mit strengen Moralvorstellungen und klaren Regeln. Ein Idyll des ländlichen Lebens, das zum ersten Mal gestört wird, als sich der Doktor bei einem Reitunfall verletzt. Ein Seil war heimlich gespannt worden, um Ross und Reiter zu Fall zu bringen.
In den folgenden Monaten häufen sich gewaltsame Merkwürdigkeiten. Tödliche Arbeitsunfälle, Brände, Selbstmorde, gefolterte Kinder – von Haneke ohne Voyeurismus geschildert. Ihn interessiert, was diese Ereignisse bei den Menschen auslösen, er schildert die strukturellen Zwänge des Dorfes, die Abhängigkeiten seiner Bewohner untereinander, die bigotte Interpretation ihres Wertesystems, das von blindem Protestantismus geprägt ist.
Die Leidtragenden, die Opfer und die Täter – das sind vor allem die Kinder. Sie bekommen vom Pfarrer in einer der bedrückendsten Szenen des Films ein weißes Band um den Arm gebunden. Es soll sie erinnern an ihre Sünden und an ihre Schande, es soll sie auf den Pfad der Tugend zurückbringen. Doch dabei werden sie von den Erwachsenen systematisch fehlgeleitet. Haneke lässt sie ins Verderben rennen, weil sie ins Verderben rennen müssen.
Ursache und Wirkung hängen zusammen, auch ohne lineare Kausalität: Die Kinder sind Kinder ihrer Zeit und ihres Umfeldes. Insofern ist "Das weiße Band" natürlich auch ein Erklärungsversuch, wieso sich die unschuldig dreinblickenden Buben und Mädchen vom Nationalsozialismus werden verführen lassen. Mehr noch ist der Film aber eine allgemeingültige Parabel über die Entstehung von Gewalt im Umfeld von Zwang und willkürlicher Machtausübung.
Quelle: teleschau – der Mediendienst