Edgar Selge und Franziska Walser

Von der Sehnsucht der Fundamentalisten

von Eric Leimann

Edgar Selge und Franziska Walser, Tochter des Schriftsteller-Granden Martin Walser, haben sich auf der Schauspielschule in München kennengelernt. Auch wenn es damals nicht sofort funkte, sind die beiden Mimen mittlerweile seit fast 40 Jahren ein Paar. Zwei erwachsene Kinder haben sie. Sohn Jakob und Tochter Maria arbeiten ebenfalls als Schauspieler.

Im Drama "So auf Erden" (Mittwoch, 4.10., 20.15 Uhr, ARD) spielen Walser und Selge ein Ehepaar, das einer strengen freichristlichen Gemeinde vorsteht. Als Pastor Johannes (Selge) seine Homosexualität entdeckt – die von der Religionsgemeinschaft als Sünde gebrandmarkt wird – stehen Glaube, Lebensmodell und Beziehung des Pastorenpaares vor einer schweren Zerreißprobe.

prisma: Es wäre jetzt relativ leicht, sich über ein frommes Pastoren-Ehepaar lustig zu machen, bei dem der Mann seine vom Glauben verbotene Homosexualität entdeckt!

Franziska Walser: Aber es ist nicht so interessant, sich nur darüber lustig zu machen. Das Spannende an diesen vordergründig biederen Menschen ist ja, dass sie wirklich Suchende sind.

prisma: Der Einfluss der Kirche auf unser Leben nimmt ab. Nun könnte man meinen, wenn auch noch eine moralisch besonders strenge Freikirchen-Gemeinde seziert wird, kann der Zuschauer das als ziemlich weit weg vom eigenen Leben empfinden ...

Edgar Selge: Tatsächlich steigen die Mitgliedszahlen der christlichen Freikirchen im Gegensatz zur normalen Kirche stark an. Alle fundamentalistischen Religionsgemeinschaften in Deutschland haben Zulauf.

prisma: Woher kommt das?

Selge: Es gibt viele Menschen in unserer Gesellschaft, die sich von unseren kulturellen Eliten nicht mehr vertreten fühlen, aber trotzdem eine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Verbindlichkeit haben. Mittlerweile gibt es 40 bis 50 aktive Religionsgemeinschaften in Deutschland! Viele treffen sich fast kaum sichtbar für uns in irgendwelchen leerstehenden Räumen in Gewerbegebieten. Dort treffen sich dann Griechisch-Orthodoxe neben Muslimen, Hindus und anderen. Zimmer an Zimmer. Diese Entwicklung hat natürlich auch viel mit Flucht und Zuwanderung zu tun.

prisma: Macht Ihnen das Angst?

Franziska Walser: Das Provokante an der starken Religiosität dieser Menschen ist, dass wir sie nicht nachvollziehen können. Dazu kommt, dass man den Menschen ihre Religiosität oft zunächst nicht ansieht. Das irritiert.

Selge: Und es provoziert bei uns die Frage, warum wir selbst nicht in solchen verbindlichen und schützenden Gemeinschaften leben. Na klar, man könnte sagen, uns geht es um Freiheit und Individualität. Das sind unsere Werte. Aber die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Verbindlichkeit ist ja auch bei uns vorhanden.

prisma: Aber entlarvt Ihr Film nicht auch ein wenig die Nutzlosigkeit solcher Religionsgemeinschaften?

Selge: Es braucht immer erst mal Gemeinschaften, damit der Einzelne seine Besonderheit herausfinden kann. Der Film behandelt den interessanten Gegensatz von Religion und Glauben. Die Religionsgemeinschaft entgleitet den beiden Figuren, aber ihr Glaube bleibt trotzdem da. Der Glaube besitzt durchaus eine große provokative Kraft. Auch innerhalb der Religionsgemeinschaft.

Franziska Walser: Glaube ist im Gegensatz zur Religion mit ihren klaren Vorschriften erst mal ein unsicherer Weg. Zunächst ist da ja ein stummer Gott, mit dem man sich auseinandersetzt. Mit dem man das Zwiegespräch sucht. Der Film zeigt den Versuch, wie zwei Menschen den Glauben zu leben versuchen, wenn die Religion wegfällt. Ich finde es anrührend, ihnen dabei zuzusehen.

prisma: Man könnte also sagen, die Religionsgemeinschaft kommt nicht so gut weg bei diesem Film. Der Glaube aber schon?

Selge: Man kann das so sehen, aber ich weiß auch von jungen Muslimen, dass es gute Gründe gibt, in einer Religionsgemeinschaft Halt zu suchen, auch wenn sie fundamentalistisch ist. Weil ihnen die Religionsgemeinschaft ermöglicht, über das rein hedonistische Lebensgefühl hinaus, jenseits des Party-Talks, einen Gesprächsstoff zu finden. Einer, der mit Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit zu tun hat. Das Bedürfnis danach hat doch jeder. Wir ignorieren das in unserer Gesellschaft zu sehr, obwohl das ein ziemlich starkes Gefühl ist. Es wundert mich nicht, dass die Fundamentalisten so viel Zulauf haben.

prisma: Wären unsere christlichen Kirchen erfolgreicher, wenn sie ebenfalls fundamentalistischer wären? So wie die Freikirche im Film ...

Franziska Walser: Eine wichtiger Erfolgsfaktor der Freikirchen ist auch die Art und Weise, wie sie ihre Predigten und Gottesdienste gestalten. Das hat so etwas Euphorisches. Es wird ein Gefühl des Aufbruchs vermittelt. Jeder wird persönlich angesprochen. Das fehlt bei den Amtskirchen.

prisma: Sie meinen Bilder, wie man sie aus Amerika kennt?

Franziska Walser: Ja, dort gibt es ja vor allem Freikirchen. Musik spielt dabei ebenfalls eine große Rolle.

Selge: Glaube ist immer eine Bewegung, ein Vorgang. Es ist auch immer ein Sprung ins Leere. Man weiß nicht, wo einen der Glaube hinführt. Religion hingegen wird schnell zu einem Zustand, zu einem Schubkasten. Manchmal scheint es tatsächlich so, als hätten die Freikirchen mehr von dieser Bewegung. Von dem, was Franziska als euphorisch beschreibt.

prisma: Haben die großen Kirchen den Spaß an der Sache verloren?

Selge: Ja vielleicht. Aber das soziale Gewissen und Engagement ist dafür stark ausgeprägt. Dabei ist die evangelisch-lutherische Kirche mal mit der Idee vom "fröhlichen Christenmenschen" angetreten. In meiner Kindheit war Religion vor allem attraktiv für mich, weil sie von meinen Eltern mit vitaler, großer Fröhlichkeit gelebt wurde.

prisma: Wissen Sie noch, was Sie genau damals an Religion faszinierte?

Selge: Auf jeden Fall die Leidensfähigkeit von Christus. Das ist eine Utopie von Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit, die er versuchte, in die Welt hineinzutragen. Von den Menschen wurde er dafür verspottet und am Ende getötet. Die ganze Bibel ist voll von Geschichten und Gleichnissen über jede nur erdenkliche Lebenssituation. Und immer findet die Angst und Verzagtheit der Menschen in diesen Geschichten einen Weg zurück zu Mut und Hoffnung. Die Bibel, das ist ganz große Literatur und Lebenshilfe zugleich.

prisma: Was Sie als Gläubigen letztendlich aber doch nicht bei der Stange gehalten hat?

Selge: Bis zu meiner Konfirmation, da war ich 14, haben mich die Inhalte der biblischen Geschichten schon sehr interessiert. Danach hat das Interesse an der Literatur, Malerei und der Musik die Religion verdrängt. Grundsätzlich empfinde ich die Möglichkeit, mit Geschichten aus der Bibel aufzuwachsen, aber als große Chance.

prisma: Welche Rolle spielte Religion in Ihrer Erziehung, Frau Walser?

Franziska Walser: Religion spielte eine große Rolle, aber ganz anders als bei Edgar. Meine Eltern lebten die Religion eher so als Hintergrund mit. Sie war Teil ihres Wertesystems, aber man ging nicht jeden Sonntag zur Kirche. Ich bin auf dem Land groß geworden. Für mich war die Kirche das erste Theater, das ich erlebte. Ein geheimnisvoller, magischer Ort. Es gab tolle Musik dort, und es fand Verwandlung statt. Aus Wein wurde Blut, aus Brot wurde Fleisch. Das waren mysteriöse Dinge, und ich bin da als Kind sehr gerne hingegangen. Kirche hat mich damals durchaus euphorisch gemacht.

prisma: Und das hat dann ebenso wie bei Ihrem Mann mit dem Erwachsenwerden aufgehört?

Franziska Walser: Ich bin im Gegensatz zu ihm katholisch. Schon als ich auf die Kommunion vorbereitet wurde, merkte ich, dass mir vieles zu stereotyp war. Später hatte ich dann das Bedürfnis, mich mit Gott persönlicher auseinanderzusetzen. Er antwortete mir aber nicht. Komischerweise deprimierte mich das aber keineswegs. Die Sache wurde eher zu einer Aufgabe für mich. Es ging darum, Antworten von Gott zu finden. Irgendwann später bin ich aus der Kirche ausgetreten. Weil ich mit den Vermittlern der Religion nicht so viel anfangen konnte.

prisma: Gab es denn noch eine Antwort von Gott?

Franziska Walser: Es gibt immer Antworten. Man muss sich aber auf einen eigenen Weg machen, um sie zu finden.

Selge: Es gibt die sogenannte unsichtbare Kirche, das ist die Kirche Jakobs, der im Alten Testament mit dem unsichtbaren Gott ringt. Das ist die Kirche des Glaubens. Und es gibt die sichtbare Kirche, die die Kirche Esaus genannt wird, mit ihren Institutionen und Vorschriften. Der reine Glaube, die unsichtbare Kirche Jakobs, kann einen auch ans Nichts, an die Leere heranführen. Das ist nicht jedermanns Sache. Nicht alle Menschen halten das aus. Es gibt viele, die suchen so etwas erst gar nicht. Und es wäre sehr arrogant, sich darüber zu erheben.

prisma: Dennoch ist Ihr Film nicht unbedingt eine Werbung für Religionsgemeinschaften, oder?

Selge: Da haben Sie sicher Recht. Das muss ja auch nicht sein.

prisma: Fühlen Sie sich – da Sie beide älter werden – stärker von Glaubensthemen angezogen als im jungen Erwachsenenalter ?

Franziska Walser: Ja, ich merke das durchaus. Papst Franziskus finde ich zum Beispiel großartig. Er hat eine fast schon anarchische Kraft, das ist etwas sehr Anziehendes. Er geht sehr frei mit dem Thema Glauben um, und er vermittelt echte Barmherzigkeit.

Selge: Sogar beim Thema Homosexualität! Das Seltsame ist, dass wir von den Kirchen immer eine Art moralischer Perfektion erwarten. Kirche ist genauso widersprüchlich, fehlerhaft, schmierig und manchmal großartig, wie der Rest unseres Lebens auch. Ich glaube, ich musste fast 70 Jahre alt werden, um das zu kapieren.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

Das könnte Sie auch interessieren