Erstes Soloalbum

Radiohead-Gitarrist Ed O'Brien: "Ich wollte Herz-Musik machen"

von Nadine Wenzlick

Ed O'Brien tritt in die Fußstapfen seiner Radiohead-Bandkollegen Thom Yorke, Jonny Greenwood und Phil Selway: Unter dem Namen EOB veröffentlicht der 52-Jährige sein erstes Soloalbum.

Ed O'Brien macht keinen Hehl draus, dass er eigentlich nie vorhatte, ein Soloalbum aufzunehmen. "In meinem Leben war lange kein Platz dafür", sagt der Brite, der als Gitarrist von Radiohead international bekannt wurde. Die Rockband aus Oxford hat seit ihrer Gründung Mitte der 80-er über 40 Millionen Alben verkauft und genießt unter Musikfans längst Kultstatus. "Zum einen war ich mit Radiohead immer gut ausgelastet, zum anderen habe ich zwei Kinder. Mein Sohn wurde 2004 geboren, meine Tochter 2006. Wenn ich freihatte, wollte ich einfach bloß Vater sein." Doch Anfang Februar 2020, also vor dem internationalen Corona-Lockdown, sitzt der 52-Jährige im Londoner Büro seiner Plattenfirma, um – äußerst eloquent und freundlich – genau das zu bewerben: sein erstes Soloalbum. Es heißt "Earth" und wird von O'Brien unter dem Kürzel EOB veröffentlicht.

Angefangen hat alles damit, dass O'Brien und seine Familie 2012 für ein gutes halbes Jahr nach Brasilien zogen. "Wir wollten ein gemeinsames Abenteuer erleben und an einem Ort leben, der komplett anders ist. Meine Frau und ich haben Südamerika schon immer geliebt, also entschieden wir uns für Brasilien", erzählt er. "Wir wohnten auf dem Land, vier Stunden von São Paulo entfernt. Wir hatten kein WLAN und keinen Handyempfang. Die Kinder besuchten die Schule im nächsten Dorf. Morgens um 6.30 Uhr wurden sie von einem VW-Bus abgeholt und nachmittags um 14 Uhr kamen sie zurück. Auf einmal hatte ich all diese Zeit, also fing ich an zu schreiben. Am Anfang dachte ich, ich würde ein elektronisches Album machen. Aber nach ein paar Wochen merkte ich, dass das Quatsch ist, weil ich daran überhaupt keinen Spaß hatte. Da griff ich zur Gitarre."

Dabei war O'Brien schnell klar: Er wollte keine "Kopfmusik" machen, sondern "Herzmusik". "Bei Kopfmusik konzentriert man sich darauf, neue Sounds zu finden. Ich wollte mich aber nicht darin verlieren, auf Teufel komm raus neue Klänge zu erschaffen", erinnert er sich. "Viel wichtiger war mir der Herz-Aspekt. Wir haben trotzdem interessante Sachen gemacht, aber es ging mir vor allem darum, mit den Songs eine emotionale Verbindung zum Hörer schaffen."

Höchst abwechslungsreich und vielseitig ist "Earth" trotzdem. Auf die eingängige Single "Shangri-La", die als echter Indie-Rock-Hit durchgeht, lässt O'Brien das achteinhalb Minuten lange Stück "Brasil" folgen: Zu Vogelgezwitscher und sanften Akustikgitarren gesellen sich zunächst Streicher, bevor nach drei Minuten ein pulsierender Beat einsetzt und das Stück sich zu einer mitreißenden House-Orgie steigert. Der akustischen Ballade "Long Time Coming" folgt der experimentelle, weitgehend instrumentale Titel "Mass", und später überrascht EOB unter anderem auch mit dem folkigen Stück "Cloak Of The Night", einem Duett mit der britischen Folk-Pop-Sängerin Laura Marling.

Eingespielt hat O'Brien das von Flood, Alan Moulder und Catherine Marks produzierte Album größtenteils mit seiner EOB-Stratocaster-Gitarre, die er gemeinsam mit Fender entwickelte und die dank eines sogenannten Sustainers jede Menge Spielraum für Klangexperimente bietet. Neben Gitarre und Gesang übernahm O'Brien auch Bass, Keyboard, Percussions und programmierte Parts. Er lud allerdings auch einige prominente Gäste ein: Radiohead-Bandkollege Colin Greenwood ist auf "Earth" ebenso zu hören wie Portishead-Gitarrist Adrian Utley und Wilco-Schlagzeuger Glenn Kotche.

Und was hat es mit dem Titel "Earth" auf sich? O'Brien geht es bei seinem Album darum, einen Blick auf das große Ganze zu werfen – auf unsere Erde eben. "Wir leben in einer unglaublich wichtigen Zeit in der Geschichte der Menschheit. Es ist das Ende eines Zeitalters und der Beginn einer neuen Zeit. Wir müssen uns verändern, wir müssen auf unser wunderschönes Zuhause aufpassen", erklärt O'Brien. "Aber wir sind alle so beschäftigt mit unserem eigenen Leben, dass wir den Blick auf das große Ganze verlieren. Auf meinem Album geht es um die essenziellen Themen. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein und auf diesem Planeten zu leben? Was sind die Dinge, die wirklich etwas bedeuten?"

Liebe und Familie spielen in den Songs genauso eine Rolle wie das Leben und der Tod. In "Banksters" bringt O'Brien seine Wut über das aktuelle ökonomische System zum Ausdruck, "Sail On" ist ein Tribut an seinen Cousin, der während der Aufnahmen verstarb. Das Stück "Deep Days", das von einem Buch über eine Flüchtlingsfamilie inspiriert ist, handelt von Familie und gesellschaftlichem Miteinander, und auch in dem Song "Shangri-La", den O'Brien wenige Tage nach einem Besuch des legendären Glastonbury Festivals in England schrieb, geht es um Zusammenhalt. Und darum, sein eigenes Shangri-La zu finden.

Das Schlüsselstück des Albums ist jedoch der Track "Brasil", der davon handelt, einen dunklen Ort hinter sich zu lassen. "Die Zeit in Brasilien war für mich ein Erwachen", erinnert sich O'Brien. "Im Hinblick auf mein eigenes Leben, meine eigene Reise, bin ich in den letzten zehn Jahren definitiv aus der Dunkelheit in das Licht getreten. Ich hatte jahrelang Depressionen und war unglücklich. Indem ich viel an mir gearbeitet habe, konnte ich das hinter mir lassen. Brasilien hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Es hat meine Seele gefüttert."


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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