Pressesprecher von SOS-Kinderdörfer weltweit

"Es brennt praktisch in allen armen Ländern und Regionen"

von Frank Rauscher

Corona kennt keine Grenzen, die Pandemie trifft die Ärmsten besonders hart: "Wir befürchten für einige Staaten nicht nur sehr viele Tote, sondern auch den Kollaps des gesamten Staates", sagt Louay Yassin von SOS-Kinderdörfer weltweit.

Es geht dieser Tage fast rund um die Uhr um die Corona-Krise und ihre wirtschaftlichen Folgen – das Wort vom "Exit" dominiert die Debatte, auch im deutschen Fernsehen. Keine Frage, es sind überaus wichtige Themen, die derzeit in den großen Talkrunden verhandelt werden – die seit Wochen starken Einschaltquoten sprechen für sich. Dass der Fokus zum allergrößten Teil auch in den Nachrichtenformaten, den Brennpunkt- und Spezialsendungen, den Reportagen und Hintergrundgeschichten rund um die Corona-Pandemie auf die Innenpolitik gerichtet ist, ist nachvollziehbar. Warum es jedoch dringend geboten wäre, auch die ärmeren Regionen der Welt stärker ins Blickfeld zu rücken, macht Louay Yassin, Pressesprecher von SOS-Kinderdörfer weltweit, jetzt im Interview deutlich. Er richtet eindringliche Worte nicht zuletzt auch an die Medienmacher und mahnt: "Wenn Staaten in Afrika kollabieren, werden wir die Auswirkungen spüren. Solidarität darf keine Grenzen kennen."

prisma: Herr Yassin, Corona trifft alle. Ist das Virus wirklich der große "Gleichmacher", von dem derzeit so oft die Rede ist?

Louay Yassin: Nein. Das ist ganz und gar nicht so. Die Ärmsten trifft es natürlich ungleich härter als die Wohlsituierten. Das ist schon bei uns in Deutschland so. Die Tafeln müssen schließen, Hartz-Kaufhäuser ebenso. So kann es passieren, dass die Menschen, die sehr wenig haben, notfalls sogar hungern. Und in den armen Ländern und Regionen Afrikas, Asiens und Südamerikas wird Corona zur absoluten Katastrophe. Hier werden die Auswirkungen des Lockdowns und das fehlende Gesundheitssystem verheerender sein als Corona selbst. Eine Ärztin aus unserem Krankenhaus in Somalia sagte dieser Tage: "Die Virustoten werden unser kleinstes Problem sein."

prisma: Inzwischen sind hierzulande die ersten wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen gegen die Pandemie spürbar. Hat sich die zunehmend von existenziellen Sorgen geprägte Gemengelage bereits auf die Spendenbereitschaft ausgewirkt?

Yassin: Es ist noch zu früh, dazu stabile Aussagen treffen zu können. Wir hören derzeit immer wieder von Spendern, die uns sagen: "Wir machen weiter, damit ihr auch weitermachen könnt." Aber wenn sich die hiesige Corona-Krise massiv auf die Wirtschaft auswirkt, wenn die Menschen Angst haben müssen um ihren Job oder ihn sogar verloren haben, werden sie selbstverständlich weniger oder nichts mehr spenden. Das wird sich dann eins zu eins auf die Lage der Armen in Entwicklungsländern auswirken.

prisma: Es gibt hierzulande kaum noch Nachrichten aus Regionen wie Gaza, Jemen, Syrien, Bangladesch, aus Idlib oder aus dem Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, von wo vor einigen Wochen noch regelmäßig berichtet wurde ... Auch aus Afrika erfahren wir wenig. Aber das Virus kennt keine Grenzen. Was können Sie über die Situation in den Krisenherden der Welt sagen? Wo brennt es besonders?

Yassin: Es brennt praktisch in allen armen Ländern und Regionen. In Afrika beispielsweise kommt das Virus erst jetzt langsam an. Aber viele Staaten finanzieren sich stark vom Rohstoff-Export nach China. China hatte aber in den vergangenen Monaten kaum Bedarf. Also sind die Staatseinnahmen schon im ersten Quartal dieses Jahres weggebrochen. Die Staaten werden also keine Gelder für Gesundheitsausgaben haben, wenn Corona erst richtig wütet. Und sehr viele extrem arme Menschen in Afrika verdienen sich ihr Geld vom Verkauf kleiner, billiger Waren, die in China hergestellt werden. Hier gab es seit Monaten kaum Nachschub, also auch keine Verdienstmöglichkeiten. Jetzt hungern diese Menschen. Und eine Ausgangssperre können sie auch nicht einhalten, weil sie sonst verhungern. Es gibt schon jetzt kleinere Aufstände gegen die Ausgangssperren. Wir befürchten für einige Staaten nicht nur sehr viele Tote, sondern auch den Kollaps des gesamten Staates. Zudem ist anzunehmen, dass Afrika als Ganzes in seinem wirtschaftlichen Aufholprozess weit und langfristig zurückgeworfen wird. Das hätte dann auch direkte Auswirkungen auf den Migrationsdruck.

prisma: Was müsste Ihrer Meinung nach jetzt konkret getan werden, um wenigstens die dringlichsten Probleme abzumildern?

Yassin: Deutschland, die EU, die UNO und alle reicheren Staaten dürfen sich nicht nur um sich selbst kümmern, sondern müssen Solidarität üben. In der EU und auch nach außen. Wenn Staaten in Afrika kollabieren, werden wir die Auswirkungen spüren. Solidarität darf keine Grenzen kennen.

prisma: Die politische Debatte über diese Zusammenhänge wird wesentlich von den Medien mitbestimmt. Gerade das öffentlich-rechtliche Fernsehen erzielt derzeit mit Informationsprogrammen ungeahnte Reichweiten, Talks und Nachrichten rund um die Pandemie sind besonders stark nachgefragt. Wünschen Sie sich da eine andere Gewichtung als zuletzt?

Yassin: Es ist verständlich, dass in Krisensituationen zuerst über die Situation im eigenen Land, in Nachbarländern oder den USA berichtet wird. Das ist uns als Zuschauer näher als die Situation irgendwo weit weg. Auf der anderen Seite wäre es schön gewesen, wenigstens nebenbei auch weltweit die wichtigen Hotspots der Corona-Krise im Auge zu behalten und darüber zu berichten. Denn auch anderswo leiden Menschen, vor allem Kinder, unter der Krise. Doch nun wird der Blickwinkel langsam erweitert, und es wird auch über Menschen in anderen Regionen berichtet. Endlich!

prisma: Wie schwer haben es Hilfsorganisationen wie SOS-Kinderdörfer zurzeit, mit Ihren Anliegen bei den Sendern durchzudringen?

Yassin: Gerade wir als Hilfsorganisation, die sehr stark auch in den armen Ländern dieser Welt wirkt, merken seit Jahren die EU- und Deutschlandzentrierung, die in unseren Medien immer stärker vorherrscht. Auslandsberichterstattung findet oft nur noch in Nischen statt. Oder bei ganz großen Katastrophen. Ansonsten wird kaum noch über den Tellerrand hinausgeschaut. Das gilt vor allem für die TV-Sender. Dadurch werden Auslandsthemen, die langfristig auch uns betreffen, kaum noch wahrgenommen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass in der Bevölkerung, zumindest bei unseren Spendern, durchaus ein Interesse an Auslandsthemen existiert, das von Medien kaum befriedigt wird.

prisma: Können Korrespondenten derzeit überhaupt noch vor Ort arbeiten, ohne sich selbst zu gefährden? Sind noch ausreichend Reporter in den Krisengebieten vor Ort?

Yassin: Das können die Medien selbst besser einschätzen. Aber wir haben gesehen, dass die Korrespondentennetze in den vergangenen Jahren immer grobmaschiger wurden. Ansprechpartner gibt es immer weniger. Und sie haben kaum Zeit.

prisma: Was kann jetzt jeder Einzelne tun?

Yassin: Man kann sich hier in Deutschland für seine Familie engagieren, für Nachbarn, für arme Menschen. Und es wäre gleichzeitig schön, wenn man auch ein wenig an die Menschen in anderen Ländern denken würde. Wir leben in einer Welt. Alles hängt inzwischen zusammen. Wenn Menschen nicht mehr in ihrem eigenen Land leben können, hat das zwangsläufig Auswirkungen auf andere Länder.

prisma: SOS-Kinderdörfer hat in Afrika schon Erfahrungen im Umgang mit Pandemien wie Ebola oder HIV. Inwiefern hilft das nun, um möglichst schlagkräftig auf die neue Bedrohung reagieren zu können?

Yassin: Vor allem in Ländern, wo Ebola oder Cholera grassierte, sind die Menschen viel empfänglicher für Präventionsmaßnahmen. Da wird nicht lang gefragt, warum man sich die Hände ordentlich waschen soll, sondern es wird gemacht. Andererseits findet man in Liberia, Sierra Leone und vielen anderen eben auch häufig kein Wasser, um sich die Hände zu waschen. Oft gibt es keine Seife, keinen Mundschutz, keine Desinfektionsmittel, die Menschen wohnen zu zehnt in einer winzigen Hütte und notfalls hungern sie sogar jetzt schon. Hinzu kommen gesundheitliche Vorbelastung durch Malaria oder andere Erkrankungen. Und das Gesundheitssystem dieser Länder ist auch jetzt für diese Pandemie nicht ausgelegt. In ganz Malawi gibt es nur 25 Intensivbetten – für 17 Millionen Einwohner. Das ist eine Ausgangssituation, wo man selbst mit viel Erfahrung das Schlimmste befürchten muss.

prisma: Wie steht es um die Kooperation mit anderen internationalen Hilfsorganisationen?

Yassin: Die funktioniert in der Regel ganz gut. Das konnte man in Haiti sehen, in Syrien und anderen Krisengebieten.

prisma: Gibt es etwas, das Ihnen jetzt vielleicht auch Hoffnung macht?

Yassin: Wenn uns etwas Hoffnung macht, dann Solidarität. Viele Menschen wissen, dass wir nicht allein auf Welt sind und handeln danach.

Infos zu Spenden: www.sos-kinderdoerfer.de


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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