ZDF-Journalist im Interview

Jochen Breyer: "Wir fragen uns natürlich, wem wir eine Plattform geben wollen"

von Julian Weinberger

Home Schooling, leere Restaurants und ungewisse Zukunftsaussichten: In seiner neuen Reportage für das ZDF zeichnet Jochen Breyer ein Stimmungsbild der Deutschen in der Corona-Krise.

International genießt das Vorgehen der deutschen Politik in der Corona-Krise vielerorts hohe Wertschätzung. Doch was denken eigentlich die Bundesbürger über die Maßnahmen der Entscheidungsträger? Jochen Breyer sieht das Verständnis der Deutschen für die Einschränkungen ihres gewohnten Alltags mehr und mehr schwinden. Vor allem die Perspektivlosigkeit würde viele zermürben, wie der Moderator berichtet – und er muss es wissen. Für eine neue Folge der ZDF-Reportagereihe "Am Puls Deutschlands" war Breyer unter dem Motto #wiemichCoronazermuerbt (Mittwoch, 24. Juni, 22.45 Uhr) in der Bundesrepublik unterwegs und hat Stimmen eingeholt. Wo die Verzweiflung besonders groß ist, erklärt der 37-Jährige im Interview.

prisma: Durch die Corona-Krise muss die Welt mit einer neuen Normalität zurechtkommen. Wie geht es Ihnen damit?

Jochen Breyer: Ich komme damit ganz gut klar, weil es für meinen Beruf zwar auch Einschränkungen mit sich bringt, der Journalismus an sich aber eher herausfordernder geworden ist. Glücklicherweise bin ich nicht allein auf die Fußballberichterstattung festgelegt, sondern darf mich mit meinen Reportagen auch um gesellschaftspolitische Themen kümmern. Und dafür erleben wir gerade eine extrem spannende Zeit.

prisma: In Ihrer neuen Reportage beschäftigen Sie sich mit der Corona-Krise und ihren Auswirkungen. Wie ist das aktuelle Stimmungsbild in der Gesellschaft?

Breyer: Was fast alle verbunden hat, die wir getroffen haben: dass sie vor allem die Perspektivlosigkeit zermürbt. Ihr Hauptproblem ist nicht, dass sie aktuell mit Schwierigkeiten zurechtkommen müssen. Durch die Bank haben alle gesagt: "Das Schlimme ist, dass wir nicht wissen, wie lange es noch so geht und wann wir wieder die alte Normalität zurückhaben." Sie sind alle bereit, durch ein Tal zu gehen, aber würden auch gerne wissen, wann der nächste Berg kommt.

prisma: Wie macht sich diese Perspektivlosigkeit bemerkbar?

Breyer: Im März und April standen die Menschen größtenteils hinter den politischen Entscheidungen. Bei sehr vielen bröckelt das aber gerade, weil sie das Gefühl haben, zu kurz zu kommen. Ein Gastwirt hat uns gesagt, er glaubt, dass jedes zweite Restaurant pleitegehen wird. Er arbeitet aktuell mit einer Auslastung von 40 bis 50 Prozent, hat aber gleichzeitig 90 Prozent der Ausgaben bei Normalbetrieb. Die Rechnung kann natürlich nicht aufgehen. Dann gibt es sehr viele Eltern, die endlich ein Konzept fordern, wie Schule in dieser neuen Normalität aussehen kann. Und einige Solo-Selbständige, die sich bei uns gemeldet haben, fühlen sich von der Politik nicht gesehen.

prisma: Diese Unzufriedenheit hat sich vor einigen Wochen bei den sogenannten Hygienedemos mit Tausenden von Protestierenden entladen. Mittlerweile hat das Interesse daran aber wieder nachgelassen. Woran machen Sie das fest?

Breyer: Ich glaube, dass bei diesen Hygienedemos relativ viele Menschen mitgelaufen sind, die ganz unterschiedliche Interessen vertreten. Strukturell hat diese Gruppe nicht wirklich zusammengepasst. Einige haben uns gesagt, sie hätten überlegt, auf eine dieser Demos zu gehen, wollten aber mit den Menschen, die da rumlaufen – zum Beispiel Impfgegner, Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker – nichts zu tun haben. Da herrschte eine Angst, mit diesen Leuten in einen Topf geworfen und dadurch nicht mehr ernst genommen zu werden.

prisma: Haben Sie auch Anhänger dieser Hygienedemos getroffen?

Breyer: Ja, und das war eine der spannendsten Begegnungen auf unserer Reportagereise. Wir trafen einen Rentner aus Lippstadt, der sich weigert, Mundschutz zu tragen und sich massiv über das Maskengebot aufregt.

prisma: Wie rechtfertigt er das?

Breyer: Er bezieht sich dabei auf Informationen, die er auf Facebook gefunden hat. Angesprochen auf seine Facebook-Nutzung meinte er, das sei das Erste, was er morgens und das Letzte, was er abends mache. Andere Medien konsumiert er hingegen fast gar nicht mehr, er liest keine Zeitung. Das sind Momente, in denen wir merken, dass die Fake News, die einige sogenannte Experten verbreiten, leider tatsächlich eine Zielgruppe finden. Der Mann ist sogar so weit gegangen, sich ein Anti-Merkel-T-Shirt zu bestellen mit einem, nun ja, ziemlich unflätigen Satz vorne drauf.

prisma: Gerade in den sozialen Medien erfahren Verschwörungstheoretiker großen Zuspruch. Warum flüchten sich aktuell so viele Menschen in diese Hirngespinste?

Breyer: Das ist eine sehr gute Frage, auf die ich leider auch keine klare Antwort habe. Wir haben versucht, einige von diesen Verschwörungstheoretikern zu kontaktieren. Doch das Problem ist: Diese Leute sind nicht bereit, uns zu treffen. Diese Gruppe von Menschen hat sich schon so weit von uns und den öffentlich-rechtlichen Medien abgekoppelt, dass sie uns unterstellen, wir würden sie nur vorführen wollen und nicht die Wahrheit berichten. Mein Gefühl ist, dass man einige von ihnen gar nicht mehr mit sachlichen Informationen erreichen kann.

prisma: Inwiefern?

Breyer: Die würden sich bei jedem Thema eine Position suchen, die gegen die Regierung und den Mainstream geht. Deswegen weiß ich gar nicht, ob das etwas mit Corona zu tun hat, oder ob es nicht generell eine Lust an einfachen Erklärungen ist, um sich gegen die Mainstream-Meinung aufzulehnen und sich besonders zu fühlen, weil man selbst einer der wenigen ist, die die große Verschwörung durchschauen. Besonders Facebook ist ja voll mit Desinformation und Fake News.

prisma: Ihr Anspruch bei "Am Puls Deutschlands" ist es, ein möglichst breites Stimmungsbild zu zeigen ... Wo ziehen Sie Grenzen?

Breyer: Wir fragen uns natürlich, wem wir eine Plattform geben wollen. Wir haben uns beispielsweise bei einer früheren Reportage zum Thema Freiheit mit einem Leugner des Klimawandels getroffen. Nach dem Interview mit ihm haben wir aber entschieden, seine Aussagen nicht zu senden, denn er war der Meinung, es handele sich um eine jüdische Weltverschwörung. Solchen kruden und gefährlichen Dingen wollen wir keinesfalls eine Plattform bieten. Da ist für uns eine rote Linie erreicht.

prisma: Abgesehen von den Verschwörungstheorien gab es in den vergangenen Wochen mit den Angriffen auf Journalisten am Rande von Hygienedemos eine besorgniserregende Entwicklung. Wie haben Sie diese Attacken wahrgenommen – gerade in dem Wissen, selbst bald in einem ähnlichen Umfeld zu drehen?

Breyer: Das macht mir natürlich auch Sorgen, besonders weil man gemerkt hat, dass es nicht bei einem Einzelfall geblieben ist. Wir selbst haben diese Erfahrung aber nicht gemacht. Wir waren bei einem Abendspaziergang gegen die Corona-Maßnahmen mit 15 oder 20 Leuten. Da haben wir diese aggressive Stimmung nicht wahrgenommen. Es war aber schon so, dass die meisten nicht mit uns sprechen wollten, weil sie uns nicht vertrauen und glauben, wir würden ihre Aussagen verfälschen. Eine aggressive Grundstimmung gegen uns habe ich bislang nur bei einer Reportage über Pegida wahrgenommen. Da ist es ja quasi an der Tagesordnung, dass Medienvertreter beschimpft werden.

prisma: Die Corona-Pandemie bestimmt seit Monaten die Nachrichtenlage. Haben Sie das auch in der Resonanz auf Ihren Aufruf zur neuen Folge von "Am Puls Deutschlands" gemerkt?

Breyer: Auf jeden Fall. Wir bekamen dieses Mal so viele Rückmeldungen wie noch nie. Das liegt einfach daran, dass diese Krise jeden in irgendeiner Form betrifft – sei es beruflich oder privat. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen, jeder ist betroffen.

prisma: Wie gingen Sie angesichts der Fülle an Einsendungen bei der Themenauswahl für die Sendung vor?

Breyer: Im Grunde versuchen wir immer, Themenblöcke zu finden, zu denen sich besonders viele Menschen geäußert haben. Dann wählen wir dazu einen Protagonisten aus, der aus unserer Sicht die Geschichte besonders gut erzählen kann. In diesem Fall bezog sich das auch auf Familien. Uns haben sehr viele Eltern geschrieben, dass sie verzweifelt sind, weil ihre Kinder nach wie vor nicht zu hundert Prozent in die Schule gehen können. Dadurch werden die Eltern zwischen Homeschooling und Homeoffice total zerrieben. Genauso haben sich viele Betriebe aus der Hotellerie und Gastronomie gemeldet, die mit dieser neuen Normalität nicht wirklich klarkommen. Sie haben zwar wieder geöffnet, können aber von der Auslastung her nicht einmal ansatzweise an die Zahlen von vor der Krise herankommen. Abgesehen von diesen großen Themen versuchen wir auch Anliegen darzustellen, die bislang in der Berichterstattung ein wenig zu kurz gekommen sind – etwa die Lage der Solo-Selbstständigen. Das betrifft bei weitem nicht so viele Menschen, ist für diesen kleinen Kreis aber trotzdem existenziell.

prisma: Ein Kennzeichen Ihrer Reportagereihe ist, dass Sie Ihren Protagonisten sehr nahekommen und bürgernah berichten. Wie sah der Dreh in Corona-Zeiten aus?

Breyer: Wir drehten unter ganz anderen Umständen, und diese neue Normalität ist für uns sehr, sehr neu. Es gibt natürlich nicht mehr die ganz normale Begrüßung per Handschlag, und wann immer es möglich ist, versuchen wir die Interviews draußen zu führen. Insgesamt hatte ich aber nicht das Gefühl, dass die "Bürgernähe", die Sie ansprechen und die uns sehr wichtig ist, darunter leidet. Auch in einem Abstand von eineinhalb Metern lassen sich gute und offene Gespräche führen.

prisma: Greift Ihre Sendung auch die Chancen und Potenziale der Pandemie auf?

Breyer: Nein, wir wollen mit "Am Puls Deutschlands" in erster Linie denjenigen eine Stimme geben, die sonst keine Stimme haben. Ich werde oft gefragt, warum wir nicht mal einen positiven Ansatz in unseren Reportagen wählen, und das kann ich auch nachvollziehen. Aber darum geht es uns in diesem Format nicht vorrangig. Wir wollen eine Art Kummerkasten sein, an den sich jene wenden können, die sich mit ihren Sorgen, Anliegen, Wünschen nicht gehört fühlen.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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