Thea Dorn über Reich-Ranicki & Karasek: "Heute kämen sie aus dem Shitstorm nicht mehr heraus"







"Das Literarische Quartett" ist ein Klassiker deutscher Fernsehgeschichte. Von 1988 bis 2001 prägten vor allem Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler das hitzig-unterhaltsame Gesprächsformat. 2015 wurde die Sendung nach längerer Pause wiederbelebt. Seit 2017 ist Schriftstellerin Thea Dorn dabei: zunächst als Mitglied des Quartetts, ab 2020 als Leiterin der Runde. Bei der Jubiläumssendung "Das literarische Quartett" (Freitag, 10. Oktober, 23.30 Uhr, ZDF oder ab morgens 10 Uhr in der Mediathek) sind es durchaus besondere Gäste. Im Jubiläums-Interview spricht Thea Dorn über ihre prominenten Vorgänger Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek. Sie erklärt, wie man sich heute mit Literatur von der Rastlosigkeit unserer Zeit therapieren kann und welche TV- und Streamingserien sie für große Kunst hält.
prisma: Wie wird das "Zehnjährige" gefeiert?
Thea Dorn: Mit einer ganz normalen Ausgabe des "Literarischen Quartetts" – die allerdings besondere Gäste hat. Meine Redaktion und ich, wir fanden es interessant zu erfahren, was und wie Menschen lesen, die von Amts wegen einmal Deutschlands oberste Repräsentanten für die Kultur gewesen sind. Deshalb haben wir drei ehemalige Kulturstaatsminister eingeladen: Monika Grütters, Julian Nida-Rümelin und Claudia Roth. Alle drei bringen Romane mit, aktuelle und Klassiker, die sie für gegenwartsrelevant und empfehlenswert halten.
Beim "Literarischen Quartett" denkt man immer noch an Marcel Reich-Ranicki, der das Reden über Literatur ab 1988 zum TV-Spektakel machte. Wird heute anders über Bücher gesprochen als damals?
Ja und nein. Lassen Sie es mich so formulieren: Würden Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek heute noch so über Literatur reden, wie sie es in den 90ern bisweilen getan haben, kämen sie aus dem Shitstorm nicht mehr heraus.
"Ein Buch war für ihn entweder hundsmiserabel oder fabelhaft"
prisma: Sie meinen, weil sie einen sehr Männer-zentrierten Blick hatten?
So könnte man das nennen. Allerdings führte diese Haltung ja schon im Jahr 2000 zum Eklat – oder zumindest zum Bruch mit Sigrid Löffler. Auch jenseits heutiger Sensibilitäten würde ich sagen: Was Reich-Ranicki sich damals bei dem Gespräch über einen Roman von Haruki Murakami geleistet hat, geht nicht. Der einzigen Frau in der Stammbesetzung zu unterstellen, sie habe ein Problem, sobald es bei Literatur um Liebe beziehungsweise Sexualität gehe, ist ein Lehrstück in Frauenfeindlichkeit. Da hatte Sigrid Löffler vollkommen recht. Abgesehen von der Platzhirschproblematik hat das alte Quartett aber etwas Bedeutendes geprägt: Literaturkritik verlangt nicht von sich aus danach, dass man sie im Fernsehen betreibt. Lesen und das Gespräch über Literatur sind etwas Stilles, Intimes. Talkshows sind alles andere als still und intim. Insofern musste man etwas Neues erfinden, um beide Welten zusammenzubringen.
prisma: Dies hat die alte Runde geschafft, oder?
Auf jeden Fall. Mit Marcel Reich-Ranicki hat in Deutschland das Entertainment in die Literaturkritik Einzug gehalten. Man hat sie als großes Theater inszeniert und entsprechend besetzt. Das hat Puristen irritiert, aber viele Zuschauer fasziniert und auch für die Bücher begeistert, um die es ging. Entscheidend dafür war Reich-Ranickis Lust zu polemisieren und zu polarisieren: Ein Buch war für ihn entweder hundsmiserabel oder fabelhaft. Mit Zwischentönen hat er sich nicht lange aufgehalten, zumindest nicht im Fernsehen.
"Parolen à la 'Lesen!' oder 'Bloß nicht lesen!' liegen mir nicht"
prisma: Damals saßen die vier Diskutanten nebeneinander auf einer Bühne. Bei Ihnen ist es enger und man gruppiert sich relativ eng um einen Tisch herum. Warum?
Bei der Wiederaufnahme des Formats wurde das alte Setting ja zunächst übernommen. Vor ein paar Jahren hatten wir dann das Bedürfnis, etwas Neues auszuprobieren. Der Vorteil, wenn die vier Diskutanten an einem Tisch sitzen: Man redet tatsächlich mehr miteinander. Die Gespräche werden intensiver und schneller. Die alte Sitzordnung mit Live-Publikum hat dazu verleitet, dass sich vier Solisten vor eben diesem Live-Publikum produzieren. Noch ein Satz zum Inhaltlichen: Der größte Unterschied zum alten Quartett dürfte darin liegen, dass wir versuchen, bei den Büchern mehr die Zwischentöne auszuloten. Denn seien wir doch ehrlich: Die meisten Bücher, die wir besprechen, sind weder ganz schlecht noch unerreicht großartig. Mir geht es nicht um maximal rigorose Wertungen, sondern darum, in unseren Diskussionen den Büchern gerecht zu werden. Die Zuschauer sollen sich ein eigenes Urteil bilden, selbst entscheiden können, ob ein Buch etwas für sie. Parolen à la "Lesen!" oder "Bloß nicht lesen!" liegen mir nicht.
prisma: Mussten Sie mal eine Diskussion wiederholen, die aus dem Ruder gelaufen war?
Wenn Sie meinen, ob es jemals zu einem derartigen Eklat gekommen ist, dass wir ein Gespräch nicht ausstrahlen konnten, lauten die Antwort: nein. Und wäre es jemals zu einem solchen Eklat gekommen, hätte es auch sicher nichts gebracht, die Diskussion zu wiederholen.
prisma: Eigentlich ist Literatur heute ein wenig anachronistisch, weil man zum Lesen Zeit benötigt. Doch die haben oder nehmen sich heute immer weniger Menschen, könnte man denken. Wie viel Zeit investieren Sie ins Lesen?
Das ist schwer zu beantworten. Ich bin und war schon immer eine Vielleserin – selbst als ich noch gar nicht lesen konnte. In unserer Familie kursiert die Legende, dass ich im zarten Alter von vier oder fünf Besucher immer dazu verdonnert hätte, mir zuzuhören. Angeblich habe ich mein Lieblingsbuch hervorgezogen – "Ein Krokodil verlässt den Nil" – und so getan, als würde ich daraus vorlesen. In Wahrheit konnte ich die Geschichte einfach auswendig, weil meine armen Eltern sie mir so oft vorlesen mussten. Bei späteren Familienurlauben habe ich von Griechenland oder Italien wenig gesehen, weil ich stets ein Buch vor der Nase hatte. Ich habe damals sogar noch im Gehen gelesen ...
"Einzig den Gedanken nachgehen, die sich aus der Lektüre ergeben ..."
prisma: Wie ist es heute, da Sie sich professionell mit Büchern beschäftigen: Wie teilen Sie sich die Lesearbeit ein?
Die digitale Revolution ist auch an mir nicht spurlos vorübergegangen. Anders als früher versinke ich nicht mehr über Stunden oder gar Tage in einem Buch: Die diversen Mail- und sonstigen Accounts wollen eben regelmäßig gecheckt sein. Ich fürchte, es erzählt viel über unsere Zeit und unsere Süchte, wenn selbst ich als eingefleischte Leserin mich disziplinieren muss, um mich beim Lesen nicht ablenken zu lassen. Wenn ich Bücher oder Druckfahnen auf dem Tablet lese, stelle ich dieses in den Flugmodus. Es würde mich vollkommen wuschig machen, wenn auf demselben Bildschirm, auf dem ich lese, nebenher ständig Hinweise auf Mails oder andere Nachrichten aufpoppten.
prisma: Kann uns das Lesen von Literatur vor der modernen Zeit und Hektik retten?
"Retten" sicher nicht. Aber ich empfinde mittlerweile die paar Stunden pro Tag, an denen ich die hektische Außenwelt mit ihren permanenten Reizen komplett aussperre, als etwas ungemein Kostbares. Andere mögen meditieren oder eine Sportart betreiben, bei der sie einen ungeteilten Fokus brauchen. Ich komme am ehesten zur Ruhe und letztlich auch zu mir, wenn ich schreibe. Oder wenn es mir dann doch gelingt, einem Buch meine ungestörte Aufmerksamkeit für eine längere Zeit zu widmen und einzig den Gedanken nachzugehen, die sich aus der Lektüre ergeben.
"Seit 'Emergency Room' bin ich Serienjunkie"
prisma: Von der Literatur zum Fernsehen ... seit etwa 20 Jahren spricht man auch von der Qualitätsserie als dem "modernen Roman". Schauen Sie selbst Serien?
Aber hallo, ich liebe gute Serien! Seit "Emergency Room" bin ich Serienjunkie: "Six Feet Under", "Breaking Bad", "Die Brücke", "Damages", "Dexter", "Prisoners of War", "Homeland" – alles großes Fernsehkino! Selbst "Game of Thrones" habe ich komplett geschaut, auch wenn ich es nicht als Lieblingsserie bezeichnen würde. Zuletzt hat mich "Yellowstone" ziemlich gefesselt.
prisma: Und man fragt sich, wann Sie das alles neben dem Lesen und Schreiben zeitlich unterbringen? Hat Ihr Tag mehr Stunden als der anderer Menschen?
Man sagt mir nach, dass ich manche Dinge eher schnell erledigt bekomme. Außerdem habe ich keine Familie, die nach meiner Zeit verlangt. Das erlaubt mir ebenfalls, meine Tage mit anderen Tätigkeiten vollzupacken. Zum Seriengucken komme ich aber eigentlich nur, wenn ich irgendwo allein in Schreibklausur bin. Wenn ich den ganzen Tag geschrieben habe, mag ich abends nicht auch noch lesen. Und wenn das Wetter nicht so ist, dass ich den Abend im Freien verbringen möchte, dann ist Seriengucken eine herrliche Beschäftigung.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH