Jugendgewalt nimmt "exponentiell" zu: Schulleiterin äußert sich in ZDF-Reportage
Die Reporterin Sarah Tacke hat sich in ihrer Doku schonungslos mit Gewalt seitens Jugendlichen auseinandergesetzt. Trotz aller kritischer Äußerungen gibt es Hoffnung.
Massenschlägereien im Ruhrgebiet, Gewaltausbrüche in Berliner Freibädern, Prügelorgien auf offener Straße – Jugendgewalt in Deutschland produzierte in den letzten Monaten Schlagzeilen. Und sie hat nicht nur gefühlt, sondern auch nachweislich zugenommen: Ging von 2001 bis 2020 die Zahl der Straftaten von Jugendlichen zurück, stieg sie von 2021 auf 2022 zuletzt an. Folgerichtig fragte ZDF-Journalistin Sarah Tacke in der Reportage "Kein Respekt! Wenn Jugendliche zuschlagen", einem Ableger der "Am Puls mit ..."-Reihe: "Was ist los mit unserer Jugend?"
"Das Unrechtsbewusstsein tendiert häufig gegen Null", berichtet Polizist Rico in dem 45-minütigen Film von Ulrich Bentele, Samuel Kirsch und Nino Seidel. Er arbeitet in einer Berliner Spezialeinheit gegen Jugendgewalt. Sein Kollege mit dem Spitznamen Pinki beobachtet zudem eine Enthemmung: "Früher hat man auf dem Boden gelegen und einem wurde hochgeholfen. Heutzutage treten die meisten noch nach, in den Kopf und so. Das ist erheblich mehr geworden."
Junger Erwachsener in Hamburger Problemviertel: "Hier wird öfter rumgeschossen"
Besonders eindrücklich in dem sehenswerten ZDF-Film sind die Schilderungen eines 18-Jährigen, der in der Reportage Can genannt wird. Mit neun Jahren habe er erstmals jemanden mit der Faust geschlagen, berichtet der Hamburger. In der fünften Klasse habe er sich gegen eine Mobbingattacke gewehrt und einen Mitschüler per Stollenschuh-Tritt ins Krankenhaus befördert – samt innerer Blutungen.
Und doch wirkt der junge Erwachsene nicht wie ein hemmungsloser Schläger. "Ich will raus hier. Es gibt zwei Seiten von Hamburg, und wir leben leider in der schlechten Seite", ist sich Can bewusst – ebenso wie seiner Perspektivlosigkeit: "Ich schlafe bis 14 Uhr, geh raus. Bin bis 4 Uhr wach. Essen, Trinken, Schlafen, mehr habe ich nicht zu tun."
Doch steigende Jugendgewalt nur in Problemvierteln wie dem Osdorfer Born (Can: "Hier wird öfter rumgeschossen, das ist Normalität.") zu verorten, ist zu kurz gedacht, wie "Kein Respekt! Wenn Jugendliche zuschlagen" verdeutlicht.
Schulleiterin sorgt sich: "Wir verlieren Kinder in ihrer Unversehrtheit"
Denn auch weit weg von der Großstadt machen gewalttätige Jugendliche Probleme. "Eine exponentielle Steigerung, die man kaum noch messen kann", nimmt Silke Müller wahr, die nahe Oldenburg eine Schule leitet. Ihr macht besonders "die dunkle Seite des Netzes" Sorgen, wo Gewaltvideos, Demütigungen und Demontagen kursieren.
"Keiner ist mehr bereit, für den nächsten zu übernehmen, aus Angst, selbst bloßgestellt zu werden. Diese Mechanismen verinnerlichen Kinder von Anfang an", hat die Schulleiterin beobachtet. "Wir verlieren Kinder also als demokratische Bürgerinnen und Bürger möglicherweise, insbesondere aber in ihrer Unversehrtheit."
Im sächsischen Plauen hat man ähnliche Schwierigkeiten, die Bürgermeister Steffen Zenner auch, aber nicht nur in Problemen mit Migration verortet. Ein "kleiner Teil" der Zugewanderten sei "nicht integrationsbereit", beugt der CDU-Politiker einem Generalverdacht gegenüber Migranten vor. Gleichzeitig betont Zenner: "Wenn sich Migranten danebenbenehmen, dann muss es formuliert werden. Die Leute trauen uns nur zu, Probleme zu lösen, die wir auch beim Namen benennen." Man habe sich zu lange davor weggeduckt, moniert der OB: "Ich brauche niemanden in Berlin, der mir erklärt, wie die Welt aussieht."
"Ich möchte auch mal, dass man gut über uns redet"
Wie es besser werden kann, zeigt Sarah Tackes Besuch bei der Initiative "Stop & Go" im Sauerland. Straffällig gewordene Jugendliche, die auf ihre Verhandlung warten, bekommen dort einen durchgetakteten Tagesablauf an die Hand gegeben – statt in U-Haft zu sitzen. Man wolle ihnen "das Gefühl von Verpflichtung, Verantwortungsübernahme" näherbringen, beschreibt Sozialarbeiter Yassin Esarsar die Intention des Projekts.
Dann, so die Hoffnung, würden die Jugendlichen künftig nicht mehr straffällig – oder wie es der Hamburger Can ausdrückt: "Ich möchte was aus meinem Leben machen, ich möchte nicht, dass man sagt: 'Ihr Südländer, ihr seid immer kriminell, immer Abschaum.' Ich möchte auch mal, dass man gut über uns redet."
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH