"Public Viewing": Als 2006 ein Ruck durchs Land ging
"Public Viewing" als Massenerlebnis wie beim "Sommermärchen" 2006? Das wird es 2021 bei der EM aus bekannten Gründen nicht geben. Doch wenigstens ein Hauch der damaligen Aufbruchstimmung würde dem Land gut tun.
Fußball schaut man natürlich am besten im Stadion – oder bequem zu Hause auf der Couch. So war das mal – bis sich mit der unvergessenen Heim-WM 2006 auch das nachhaltig änderte: Das Massenphänomen Public Viewing wird in diesen Tagen 15 Jahre alt. Heute darf man durchaus mit Wehmut auf eine Zeit blicken, in der manch ein Fußball-Event Züge eines Rockfestivals hatte und auf den Plätzen und Straßen, in den Biergärten und Fanmeilen eine bis dato kaum für möglich gehaltene Aufbruchstimmung entfacht wurde.
Ganz Deutschland jubelte sich urplötzlich in eine eigentümlich hibbelige Gemütslage hinein, was eine erstaunlich verbindende Wirkung entfaltete: Man trank, sang, feierte zusammen, man herzte sich, man heulte sich Schulter an Schulter die Seele aus dem Leib. Überall ging es in jenen Tagen um Fußball, und weil Social Media noch in den Kinderschuhen steckte, war alles ein bisschen freier und naiver, es war einem nicht jede Emotion irgendwie peinlich. Kurzum: Alle staunten, wie cool das Land auf einmal war. Er fühlte sich gut an, der Zusammenhalt jener WM-Tage.
Dem "Sommermärchen" war nicht umsonst auch eine politische Dimension zugeschrieben worden. Zwar wissen wir längst, dass all das leider nicht so langlebig war, wie man damals glaubte, doch 15 Jahre später, unmittelbar vor dem Start der EURO 2021 (11. Juni – 11. Juli), ist es keine Frage: Zumindest ein Hauch jener Aufbruchstimmung würde der Pandemie-geplagten und in Teilen scheinbar hoffnungslos zerstrittenen Gesellschaft guttun. Fußball hat gewiss nicht die Macht, ein Land zu vereinen. Aber – siehe 2006 – er kann mit seiner einzigartigen Strahlkraft im besten Fall für eine Weile das allgegenwärtige "Ich" wieder zum "Wir" werden lassen und den Wind in eine andere Richtung drehen. Friede, Freude, Schland – das wär doch was. Doch wie gut stehen, abseits von der eher mit Skepsis begutachteten sportlichen Situation der Elf von Jogi Löw, die Chancen dafür? Wieviel "Sommermärchen" ist angesichts Corona möglich?
Volle Stadien wird es, auch wenn jeweils ein paar tausend Zuschauer erlaubt sein werden, nicht geben. Public Viewing mit Zehntausenden dicht an dicht vor Videoscreens mit der Größe eines Einfamilienhauses ist ebenfalls gestrichen, Massenveranstaltung sind aufgrund der Ansteckungsgefahr schlicht nicht durchführbar. Aber es gibt durchaus Hoffnung. Angesichts sinkender Inzidenzzahlen und gleichsam steigender Impfquote wurden zuletzt diverse Restriktionen zur Pandemie-Bekämpfung gelockert. Auch die Gastronomie nimmt langsam wieder Fahrt auf ...
Das sagt Karl Lauterbach
Da mag selbst der lauteste Mahner während der Corona-Krise der kollektiven Freude am Fußball-Turnier nicht im Wege stehen. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach befand im Interview mit der "Bild am Sonntag" für seine Verhältnisse geradezu euphorisch: "Was gut gehen wird: mit neun Freunden zusammen im Außenbereich eines Restaurants die EM zu gucken." Er forderte, dass die Möglichkeiten dafür möglichst zahlreich geschaffen werden, denn solche Gemeinschaftserlebnisse seien besonders wichtig für die allgemeine Befindlichkeit.
"Die Menschen brauchen nach den harten Monaten Momente der Entspannung", betonte Lauterbach. "Deshalb sollten für die EM-Wochen die Restaurants draußen länger als 22 Uhr öffnen dürfen, sodass auch alle 21-Uhr-Spiele geguckt werden können. Auch sollten wir zusätzliche Außenflächen, zum Beispiel Bürgersteige, der Gastronomie unbürokratisch zur Verfügung stellen." Besser als nichts, und viel mehr, als man noch vor ein paar Monaten gedacht hätte.
Mit den Dimensionen von 2006 hat das natürlich nichts zu tun ...
Es dauerte eine Weile an jenem sonnigen Nachmittag des 9. Juni 2006, bis die Münchner wirklich begriffen, was die im Radio schon seit Stunden gesendeten Verkehrsmeldungen zu bedeuten hatten. Erst die Fernsehbilder machten das Ausmaß fassbar: Nichts ging mehr im Umfeld des Olympiageländes, wo eine gigantische Leinwand aufgebaut war. Dort entwickelte sich im Laufe des WM-Eröffnungstages nur ein paar Kilometer von der Allianz Arena, dem Austragungsort der Auftaktpartie Deutschland – Costa Rica, entfernt, eine wahre Massenhysterie. Das Fest nahm seinen Lauf – international, bunt, jung und friedlich.
Mit einem Mal ging ein Ruck durchs Land – mitbegründet vom erfrischenden Auftreten der deutschen Mannschaft unter Jürgen Klinsmann und befeuert vom rechtzeitig einsetzenden Sommerwetter. Seit diesen Tagen kennt jedes Kind den Scheinanglizismus, der für die öffentliche Liveübertragung von Sportereignissen auf Videowänden in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen wurde. Und seither weiß auch jeder, was eine "Fanmeile" ist und dass das "Sommermärchen" keine Geschichte der Gebrüder Grimm ist. Wobei deren Erzählungen deutlich nachhaltiger wirkten als die Euphorie jener Tage. Der positive, eben auch von Offenheit und Willkommenskultur geprägte Konsens, der die Deutschen 2006 mit ihren Gästen aus aller Herren Länder in den Straßen und Parks tanzen ließ, ist nur noch eine schöne Erinnerung.
Die Frage ist nicht, ob das Sommermärchen wiederholbar ist, wenn am Freitag, 11. Juni, die Europameisterschaft beginnt, sondern ob wenigstens ein kleines Fußballfest möglich sein kann. Der Auftrag an die Nationalmannschaft ist klar.
Eine Euphorie-Welle schwappte durchs Land
Wie funktioniert so eine Euphoriewelle eigentlich? Der Psychologe Michael Thiel nennt es den "Halo-Effekt": "Der Erfolg der Mannschaft überträgt sich Schritt für Schritt quasi auf alle, auf eine ganze Gesellschaft." Der Schalter werde im Kopf eines jeden Einzelnen umgelegt: "Er fühlt sich als Teil des Erfolges und ist bestärkt, weil er überzeugt ist, selbst seinen durchaus entscheidenden Beitrag geleistet zu haben." Die Bilder von den Fanfesten im Fernsehen täten dann ein Übriges, um die Welle durchs Land schwappen zu lassen.
Beim Erlebnis Public Viewing gehe es "vor allem darum, dass man sich – eher unterbewusst – als wesentlichen Teil der Veranstaltung wahrnimmt: Ich bin nicht nur der passive Zugucker vor der Großbildleinwand, sondern es ist mein Ereignis. Ohne mich würde es dieses Fest gar nicht geben!" Und, so Thiel: "In der Euphorie ticken wir eben alle irgendwie gleich."
Rasend schnell setzten sich 2006 genau diese Mechanismen in Gang, die zumindest vorübergehend vieles veränderten. Zum Guten. Michael Thiel: "Alle Umfragen, die 2006 angestellt wurden, haben belegt, dass die Wirtschaftslage besser eingeschätzt wurde als vorher, dass die Menschen viel zuversichtlicher in die Zukunft sahen, dass sie mehr investieren wollten ... In einer solchen Phase wird mehr angepackt und gewagt – man ist einfach risikofreudiger und positiver. So war es auch 2014 beim Titelgewinn in Brasilien."
Public Viewing (im amerikanischen Englisch bezeichnet der Begriff die öffentliche Aufbahrung eines Verstorbenen, die Briten benutzen ihn gar nicht) wurde zum Phänomen verklärt, das nicht nur die Massen fesselte, sondern auch die Völker verständigte und selbst seriöseste Soziologen und Psychologen auf den Plan rief, um über die Bedeutung simultaner Erlebnisse von Freude und Trauer Auskunft zu geben. In Talkshows wurde im Sommer 2006 eifrig über die neue Lebensfreude der Deutschen schwadroniert, und natürlich wurde nebenbei ausdiskutiert, ob denn dieser neue Patriotismus gesund ist – Autofähnchen finden seitdem vor jedem Fußballturnier reißenden Absatz. "Die Nachkriegszeit ist ab sofort beendet." – Behauptete 2006 jedenfalls "Bild"-Kolumnist Franz Josef Wagner.
Einer der Euphorie-Treiber war bei allen Turnieren seither Deutschlands größte Fanmeile am Brandenburger Tor: Die Straße des 17. Juni wurde zur Partymeile umfunktioniert. 2014 empfingen dort Hunderttausende die Weltmeister von Brasilien, der Auflauf in Berlin-Tiergarten stellte schon 2006 alles in den Schatten. Schätzungsweise 300.000 Menschen hatten zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule, im Epizentrum der allgemeinen Hochstimmung, das Eröffnungsspiel der Fußball-WM auf mehreren Großleinwänden live mitverfolgt. Bei der Achtelfinalbegegnung zwischen Deutschland und Schweden waren es 750.000. Die Bilder von damals wirken heute, 16 Monate nach Pandemie-Beginn, wie aus einer anderen Zeit.
Fußballgucken mit Freunden und Familie
Was bleibt, ist das Fernsehen – und, da hat Karl Lauterbach recht, vor dem Fernseher kann die EM auch ohne Fanmeile und Massenauflauf zu einem gewinnbringenden Gemeinschaftserlebnis werden. Eine von ARD und ZDF schon nach der EURO 2008 in Auftrag gegebene Befragung ergab, dass 39 Prozent der EM-Zuschauer nicht nur zu Hause die Spiele verfolgten. Rund 14 Prozent schauten auf Großleinwand bei öffentlichen Veranstaltungen. Das Gros der Außer-Haus-Seher war nicht etwa beim Public Viewing in den Citys, sondern man sah sich die Spiele mehrheitlich bei Nachbarn, Bekannten und Verwandten (22 Prozent) an. Eine Umfrage von "Netzwerk Nachbarschaft" bestätigte im Sommer 2016 diese Tendenz: Die Deutschen, so teilte die Organisation mit, bangen, hoffen, jubeln am liebsten gemeinsam mit ihren Freunden, Nachbarn und Mitbewohnern. Wenigstens solche "Public Viewings unter Nachbarn" sollten doch auch bei der EURO 2021 möglich sein.
Drei Sender teilen sich die Übertragungen: ARD, ZDF und der Streaminganbieter MagentaTV. Das Komplettpaket aller 51 Spiele sehen nur Kunden von Telekoms Abrufdienst. Exklusiv laufen bei MagentaTV vier Spiele der Vorrunde und außerdem jeweils das Spiel von den parallel stattfindenden Begegnungen am Ende der Gruppenphase, das nicht von ARD oder ZDF ausgestrahlt wird. Bei Letzteren besitzen ARD und ZDF ein Vorwahlrecht. Kleiner Wermutstropfen: Die MagentaTV-Übertragungen kämen im Fall der Fälle aus Lizenzgründen nicht für den kommerziellen Public-Viewing-Einsatz infrage.
Wirkliches Public Viewing wird es wohl erst im Sommer 2024 wieder geben. Dazwischen liegt noch ein Großereignis, über das aktuell kein echter Fußballfreund besonders gerne spricht. Doch nach der viel geschmähten "Winter-WM" 2022 in Katar heißt es "Football Is Coming Home": Die EURO 2024 wird in Deutschland stattfinden. Das wird ein Fest. Ganz bestimmt.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH