Albrecht Schuch über "Systemsprenger"

"Der Film ist schon eine Packung"

von Eric Leimann

Eines kann man dem deutschen Beitrag im Rennen um den Auslands-Oscar nicht vorwerfen: Der Film um eine scheinbar unkontrollierbare Neunjährige ist alles andere als gefällig. Ausnahme-Schauspieler Albrecht Schuch, 34, spielt in "Systemsprenger" einen Sozialarbeiter, der sich dem Gefühlsorkan des Mädchens stellt.

Ein neunjähriges Mädchen aus schwierigen Verhältnissen bringt seine Mitmenschen zur Verzweiflung. Vor allem mit irren Gewaltausbrüchen, die unberechenbar scheinen. Deshalb wird Benni (Helena Zengel) von Heim zu Heim geschoben. Ihre Mutter kann und will sich nicht mehr um das Kind kümmern. Albrecht Schuch ("Kruso", "Bad Banks") spielt im fordernden, aber faszinierenden Kinodebüt der Regisseurin und Drehbuchautorin Nora Fingscheidt einen Pädagogen, der sich dem schwierigen Fall stellt. Nun wurde "Systemsprenger" (Kinostart: 19.09.), der bei der Berlinale einen Silbernen Bären gewann, als deutscher Beitrag ins Oscar-Rennen geschickt.

prisma: "Systemsprenger" ist ein starker Film, den man jedoch aushalten muss. Waren Sie überrascht, dass diesmal ein ziemlich sperriges deutsches Werk ins Oscar-Rennen geht?

Albrecht Schuch: Ausgerechnet an meinem Geburtstag habe ich erfahren, dass "Systemsprenger" als deutscher Vertreter ins Oscar-Rennen geht. Das war natürlich noch mal ein Spitzengeschenk, quasi eine Vergoldung des Geburtstags. Ich fühle mich geehrt, Teil dieser Wahnsinns-Geschichte, dieses großartigen Films mit dieser Wahnsinns-Regisseurin zu sein. Ich finde, dass der Film und die Art und Weise, wie Nora Fingscheidt die Geschichte erzählt, einmalig ist. Schön, dass das auch andere so sehen. Deshalb: Daumen drücken, aber den Ball flach halten!

prisma: Was dachten Sie beim Lesen des Drehbuchs?

Albrecht Schuch: Mein erster Gedanke war: Ich wollte da mitmachen. Mein zweiter: Welches Kind kann das spielen? Und wenn es in der Lage dazu ist, dann möchte ich diesen Menschen kennenlernen.

prisma: Ein schwieriges, aggressives Kind ist der Star des Films. Ein Star, der nicht nur jene vielen Helfer quält, die es im Film gibt, sondern auch den Zuschauer. Wie findet man eine Zehnjährige, die all das schultern kann?

Schuch: Es wurden über 100 Kinder gecastet, der Prozess lief über Monate. Die Regisseurin betrieb einen enormen Aufwand. Nicht nur, dass sie jahrelang recherchierte, vier Jahre am Drehbuch schrieb und jede noch so kleine Rolle sorgfältig aussuchte. Sie begleitete auch die Arbeit mit den Schauspielern, vor allem den Kindern, überaus fürsorglich. Einen solchen Aufwand betreibt heute kaum noch jemand beim Film.

prisma: Beim Fernsehen ist ein solcher Aufwand wahrscheinlich völlig unvorstellbar ...

Schuch: Egal, ob beim Fernsehen oder Film – es ist halt unbezahlter Aufwand. Es gibt Menschen, die tun so etwas, viele andere nicht.

prisma: Man sagt, mit Tieren und Kindern sollte man nicht drehen, weil sie schwer berechenbar sind ...

Schuch: Den Spruch mit den Kindern und Tieren habe ich in der Schauspielausbildung öfter gehört. Manchmal heißt es auch, man solle sich mit Kindern oder Tieren nicht auf die Bühne stellen, weil denen immer die ganze Aufmerksamkeit gehört. Das halten einige Kollegen vielleicht nicht aus (lacht). Mich haben Kinder immer sehr interessiert. Ich bin mit vielen Geschwistern aufgewachsen und habe meinen Zivildienst in einer Kita absolviert. In dieser Zeit bin ich auch an der Schauspielschule genommen worden. Im Beruf habe ich mir vorgenommen, an neue Rollen erst mal wie ein Kind heranzugehen. Fernab vom durchdachten, hinterfragenden Blick des Erwachsenen. Ich suche die Unmittelbarkeit der kindlichen Herangehensweise. Nach dem Motto: Sei neugierig, verschaff dir einen ersten Eindruck – und lass ihn ungefiltert raus.

prisma: Die junge Schauspielerin Helena Zengel trägt diesen Film. Worauf kam es dabei an?

Schuch: Einfach auf die Spiellust. Darauf, immer wach zu sein. Helena hat beim Zusammenspiel in jedem Moment verstanden, was in mir vorgeht. Der konnte man nichts vormachen. Sobald ich anfing zu künsteln, hat sie mir das direkt quittiert und widergespiegelt. Das war eine große Herausforderung für mich. Ich habe mich dabei an Dinge von früher erinnert, als ich noch ein Kind war. Vielleicht konnte ich mir sogar was von ihr abgucken. Wahrscheinlich sogar ...

prisma: Es gibt harte Szenen, die das Kind spielen muss. Die ständigen, plötzlich auftretenden Gewaltausbrüche vor allem ...

Schuch: Man denkt, der Film muss ungeheuer schwer gewesen sein. Das Gegenteil war der Fall. Es herrschte viel Freude am Set. Kinder können den Schalter hin zur Spielsituation und zurück extrem schnell umlegen. In einem Moment hat Helena noch ein Messer in der Hand, bedroht sich und andere. Und nach dem "Cut" springt man wieder auf dem Trampolin herum oder malt ein Bild. Das ist natürlich Wahnsinn, wenn man es mit dem erwachsenen Spiel vergleicht. Wenn ich eine besonders fiese Szene spielen muss, ziehe ich mich schon vorher extrem zurück, um dieses Gefühl in mir zu finden. Und das Ganze lässt mich hinterher manchmal wochenlang nicht mehr los.

prisma: Trotzdem – muss man Kinder am Set nicht auf harte Szenen vorbereiten?

Schuch: Auf jeden Fall. Ich frage mich oft, was Eltern denken, die ihre zum Teil sehr kleinen Kinder am Set abgeben und sich wahrscheinlich vor allem freuen, dass es in einem Film mitspielt. Es gibt wohl wenig vorbereitende Gespräche. Aber Nora, die Regisseurin von "Systemsprenger", ist da das komplette Gegenteil. Sie hat mehrere Treffen im Vorfeld mit Eltern und Kindern veranstaltet, dabei sehr viel erklärt. Helena sollte zudem noch jeden Drehtag in Form eines Tagebuchs aufarbeiten. So konnte man das besprechen und reflektieren, was sie erlebt hatte.

prisma: Im Film bemühen sich viele Erwachsene in unterschiedlichen Funktionen um eine Lösung für das Problemkind Benni. Doch keiner schafft es so recht. Ist das nicht eine ziemliche Tortur?

Schuch: Der Film ist schon eine Packung. Aber er fasziniert durch seine Authentizität und "Punkhaftigkeit". Außerdem ist es ja nicht so, dass alles immer nur schiefgeht. Es gibt schöne, friedliche Momente für und mit Benni. Was mich am meisten begeistert, ist, dass es ein Film ohne Moralkeule ist.

prisma: Weil er keine Lösungen anbietet? Muss man aushalten, ohne Antworten aus dem Kino zu gehen?

Schuch: Die Lösungen werden ja angeboten. Ich sehe auch noch ganz viel Hoffnung. Es gibt jene Momente, in denen wir Benni als glücklichen Menschen sehen. Es gibt sogar Szenen, über die man lachen kann. Was diesem Mädchen fehlt, ist die Konstante. Eine vertrauensvolle Beziehung, die nicht wieder nach kurzer Zeit abgebrochen wird, abgebrochen werden muss – oder von ihr abgebrochen wird, weil sie Angst hat, dass man sie wieder wegschickt. Das ist ja der beschriebene Teufelskreis.

prisma: Das Kind will ja eigentlich nur zur Mutter zurück. Die ist überfordert, stößt das Kind weg. Ist das die Ursuppe der Aggression und bedeutet dies nicht, dass jegliche "professionelle" Hilfe zum Scheitern verurteilt ist, weil sie eben nur professionell und nicht bedingungslos und dauerhaft ist?

Schuch: Ich bin Spezialist für Schauspiel, nicht für Pädagogik. Daher kann ich nur für mich antworten: Jedes Kind ist ein Einzelfall, denke ich. Allerdings braucht jeder Mensch Liebe. Eine Vertrauensperson. Wenn diese Person fehlt oder Vertrauen immer wieder missbraucht wird, ist es auf jeden Fall schwierig, Zugang zu diesem Menschen zu finden.

prisma: "Systemsprenger" ist zwar eine psychologische Sozialstudie, aber kein sozialkritischer Film in dem Sinne, dass bestehende Verhältnisse kritisiert werden. Die Helfer tun ja eigentlich allesamt ihr Bestes ...

Schuch: Der Film ist exzellent recherchiert. Er gibt Fingerzeige auf das System, finde ich, überlässt es aber dem Zuschauer, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Es gab Vorführungen, zum Beispiel bei der Berlinale, in der Sozialarbeiter aufsprangen sind und riefen: "Wir fühlen uns verarscht!". Andere, die im gleichen Job arbeiten, meinten hingegen: "Nein, genauso ist es. Man muss erst mal vor sich selber zurücktreten. Wir werden ja gar nicht direkt angegriffen mit diesem Film." Das stimmt auch, es wird niemandem Schuld in die Schuhe geschoben.

prisma: Also ist der Film ohne Botschaft?

Schuch: Ich hoffe, dass man nach Ansicht der Geschichte Bennis darüber nachdenkt, mehr Gelder für Maßnahmen mit solchen Kindern zur Verfügung zu stellen. Vertrauen, Aufmerksamkeit und eine stabile Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen ist der einzige Weg, sie aus dem ewigen Kreislauf aus Enttäuschung, Wut und Gewalt herauszuholen.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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