Hauptdarstellerin im Interview

Alissa Jung über "Das Menschenmögliche": "Das Szenario ist vielleicht sogar zu realistisch"

von Markus Schu

In "Das Menschenmögliche" spielt Alissa Jung eine Assistenzärztin, die aufgrund von extremer Arbeitsbelastung einen schweren Fehler im Dienst begeht. Wer könnte diese Rolle besser spielen als eine promovierte Ärztin?

Alissa Jung hatte sich einige Jahre aus der Schauspielerei zurückgezogen, um sich ihrer zweiten großen Leidenschaft zu widmen: der Medizin. Nach ihrer erfolgreichen Promotion und einer zweijährigen Tätigkeit als Kinderärztin kehrt sie nun wieder zurück in die Film- und Fernsehwelt – natürlich in einem Film, der beide Berufswelten in Einklang bringt. In "Das Menschenmögliche" mimt sie eine junge Assistenzärztin, die aufgrund von extremer Arbeitsbelastung einen schweren Fehler im Dienst begeht. Mit dem durch "Das kleine Fernsehspiel" des ZDF produzierten Film wird ein gesellschaftliches Tabuthema angepackt – denn auch "die Götter in Weiß" machen Fehler. Insbesondere dann, wenn das Gesundheitssystem nicht richtig funktioniert und sowohl in der Medizin als auch in der Pflege das Personal vollkommen überlastet ist.

"Das Menschenmögliche" (zunächst als Premiere auf dem Münchner Filmfest, dann am 10. Juli, 23.30 Uhr, schon im ZDF zu sehen) ist ein aufrüttelnder Film mit Sendungsbewusstsein geworden. Und dass diese Attitüde zu 100 Prozent zum Wesen der Hauptdarstellerin passt, beweist die 38-Jährige im Interview.

prisma: Ihren letzten Film haben Sie 2015 gedreht. Worin lag die längere Auszeit begründet?

Alissa Jung: Ich habe mein Medizinstudium beendet und zwei Jahre als Ärztin gearbeitet. In der Zeit habe ich nichts gedreht, sondern mich voll und ganz auf die Medizin konzentriert. Jetzt habe ich mir aber eingestanden, dass meine Leidenschaft doch eher im Filmemachen liegt – das kann ich nicht mehr länger leugnen.

prisma: Es ist relativ ungewöhnlich, dass Sie gleichzeitig Ärztin und Schauspielerin sind. Gibt es Überschneidungen bei den Jobs?

Jung: Nein, nicht wirklich – oder zumindest nicht viele: Es sind beides Berufe, bei denen man sehr empathisch sein muss und die man mit 100 Prozent Einsatz und Leidenschaft ausüben sollte. Und auch als Arzt muss man in gewissen Situationen sicherlich "schauspielern" können. Vereinen kann man die beiden Berufe aber nicht wirklich. Ich habe gehofft, dass das klappt, muss aber ehrlich zu mir selbst sein und zugeben, dass das nicht funktioniert. Man kann nicht beides mit vollem Einsatz machen.

prisma: Wie realistisch ist das Szenario in "Das Menschenmögliche"?

Jung: Sehr realistisch. Unsere Regisseurin und Drehbuchautorin Eva Wolf hat unheimlich gut recherchiert. Allein schon aufgrund ihrer Arbeit an einem Dokumentarfilm zum Alltag auf der Intensivstation, den sie zuvor realisiert hatte. Da hat sie im Klinikalltag unheimlich viel mitbekommen – auch in menschlicher Hinsicht. Deswegen hatte ich bei den Gesprächen mit Eva immer das Gefühl, dass ich mit jemandem rede, der aus dem medizinischen Bereich stammt. Ihr Drehbuch hat mich berührt – ich habe sofort zugesagt, weil es so realistisch ist. Vielleicht sogar zu realistisch: Denn es ist immer noch so, dass in den Kliniken, der Gesellschaft unter unter Medizinern die Ansicht vorherrscht, dass ein Arzt keine Fehler macht. Ein Arzt ist perfekt.

prisma: Die Götter in Weiß ...

Jung: Ganz genau! Dazu gibt's auch einen ganz tollen TED-Talk eines amerikanischen Arztes. Er sagt dort sinngemäß: Wenn ein Torwart drei von fünf Elfmetern hält, dann ist er der Held. Wenn jedoch ein Arzt drei von fünf Operationen gut macht, dann ist er ein Versager. Natürlich ist es auch der medizinische Anspruch eines Arztes, dass man jeden Patienten perfekt behandeln möchte. Am liebsten möchte man jeden Menschen gesund machen. Das ist aber nicht möglich. Jeder Arzt ist und bleibt nun mal ein Mensch – natürlich können da Fehler passieren, das ist ganz normal! Doch damit eben keine oder zumindest weniger Fehler passieren, muss über sie geredet werden. Da findet aktuell immerhin ein leichtes Umdenken in den Kliniken statt, aber das ist noch lange nicht genug.

prisma: Sehen das auch andere Mediziner so?

Jung: Ja. Im Vorfeld der Dreharbeiten sprach ich mit vielen Kolleginnen und Kollegen und da kamen immer wieder Geschichten hoch, die ähnlich zu der meiner Figur waren. Dass sie zum Beispiel am Anfang ihrer Karriere einen kleinen Fehler gemacht hatten, der vielleicht nicht unbedingt ein Leben gekostet hatte, aber den Behandlungsverlauf ungünstig beeinflusste. Das sind Situationen, mit denen man alleine gelassen wird. Es wird nicht gerne gesehen, dass man als Mediziner Fehler macht. Und sollte es doch passieren, dann spricht man besser nicht darüber, weil ansonsten möglicherweise die Karriere ruiniert ist. Und Menschen, die für ihre Fehler geradestehen und Verantwortung übernehmen wollen, wird Stillschweigen geraten. Aber wenn jeder sagt, es sei nichts passiert, dann weiß man persönlich nicht, wie man mit solchen Dingen umgehen soll. Man wird alleine gelassen. Und außerdem besteht das Risiko, dass bei Stillschweigen die gleichen Fehler auch bei anderen passieren: weil man vielleicht zwei ähnlich bedruckte Infusionen miteinander verwechselt oder weil die Arbeitsbedingungen einfach zu schlecht sind.

prisma: Im Film geht's im Krankenhaus auch äußerst chaotisch zu, kein Wunder, dass da Fehler passieren ...

Jung; Absolut richtig! Die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern und in der Pflege sind teilweise katastrophal – die Leute sind völlig überlastet. Gerade die Pflege ist völlig unterbesetzt. Und Ärzte haben Arbeitszeiten und -bedingungen, die Fehler schlichtweg begünstigen. Deswegen ist das Drehbuch unglaublich nah an der Realität, und es ist wichtig, dass über diese Themen gesprochen wird.

prisma: Spiegelt sich auch die echte Alissa Jung in der Figur von Judith Asmussen wider?

Jung: Ich bin nicht Judith, auf keinen Fall. Sie wollte immer Ärztin werden, für sie hat die Karriere in der Klinik oberste Priorität, sie hat sich das alles erkämpft und erarbeitet und steht da als Vollblutärztin, während ich einen anderen Lebenswandel habe und ganz anders zur Medizin gekommen bin – viel mäanderförmiger, wenn man es so nennen will. Ich war auch schon viel älter: Ich habe mit 35 Jahren angefangen, als Ärztin zu arbeiten, da praktizieren andere bereits seit neun, zehn Jahren. Mit 25, 26 hat man noch einen ganz anderen Blick auf die Welt. Mit 35 und als zweifache Mutter steht man einfach anders da. Mir ist meine Arbeit zwar sehr, sehr wichtig, aber der private Bereich war mir immer wichtiger – auch da bin ich ganz anders als Judith.

prisma: Im Film geht es auch um die Rolle der Frau in der Gesellschaft und insbesondere in der Medizin: Es ist erschütternd, wie oft Judith im Film mit Sexismus konfrontiert wird – in "Das Menschenmögliche" gab es den unromantischsten Heiratsantrag seit Langem zu sehen ...

Jung: Sie sagen es! Aber ich habe den Film auch schon mit Leuten angeschaut, die sagten: Ach, das ist doch ganz süß! (lacht)

prisma: Wie wichtig war es Ihnen als Frau, dass diese Themen im Film angeschnitten werden?

Jung: Ungemein wichtig. Wir denken immer, die deutschen Frauen seien so emanzipiert und gleichberechtigt, aber das stimmt einfach nicht. Es ist schön, dass es Ihnen als Mann aufgefallen ist, wie schrecklich und egoistisch dieser Heiratsantrag war. Viele Männer würden das wahrscheinlich gar nicht als so schlimm empfinden.

prisma: Vor Kurzem haben Sie gesagt, dass Sie sich in Zukunft mehr auf persönlichere, kleinere Filmprojekte konzentrieren wollen. "Das Menschenmögliche" schlägt nun in diese Kerbe. Ein Paradigmenwechsel in Ihrem Schaffen?

Jung: Es wäre definitiv schön, wenn das nun der erste Schritt in eine solche Richtung wäre. Das Medium Film ist meine große Leidenschaft. Ich möchte aber keine Zeit in oberflächliche Projekte investieren, bei denen es nur darum geht, Geld zu verdienen. Dann arbeite ich lieber wieder als Ärztin. Es muss nicht immer das gesellschaftskritischste Drama der Welt sein. Es gibt auch wunderschöne Liebesgeschichten, die es wert sind, erzählt zu werden. Ich will Figuren verkörpern, die mich berühren, in Geschichten, die eine Relevanz haben – egal ob ich nun in einer Komödie oder einem Politthriller mitwirke.

prisma: "Das Menschenmögliche" wurde vom ZDF koproduziert. Jetzt wurde der Film ins spätabendliche Programm "verbannt" und wird dort wohl kein allzu großes Publikum erreichen. Wie sehr ärgert Sie das?

Jung: Gar nicht, denn das war uns ja von vornherein klar. Der Sendeplatz ist für die Projekte von "ZDF – Das kleine Fernsehspiel" vorbehalten. Von daher war es keine Überraschung. Uns freut es aber ungemein, dass wir eine Premiere auf dem Filmfest in München feiern dürfen – letztlich war das auch unser Ziel: eine Festivalauswertung. Und heutzutage ist es doch toll, dass einem die Mediathek die Möglichkeit bietet, den Film doch noch zu sehen. Der Sendeplatz ist nach wie vor wichtig, aber die Auswertung im linearen Fernsehen ist eben nicht alles – das Fernsehverhalten, insbesondere bei jungen Menschen, hat sich in den letzten Jahren ja stark gewandelt.

prisma: Im Film geht es um moralische Konflikte im Job. Hinterlässt ein Fehler seelische Narben?

Jung: Ich glaube schon. Wobei ich bisher das Glück hatte, dass mir so etwas in dieser Dimension noch nicht passiert ist. Aber ich habe mit einer Ärztin gesprochen, die noch nach über 20 Jahren mit brüchiger Stimme über einen Fehler in ihrer Vergangenheit spricht. Das hinterlässt definitiv Narben, weil man sich immer Vorwürfe macht. Gerade wenn man in dem Moment, in dem so etwas passiert, nicht weiß, wie man damit umgehen soll und sich an niemanden wenden kann, weil das in unserem Beruf so totgeschwiegen wird.

prisma: Sie setzen sich auch für den Aufbau von Schulen in Haiti ein und haben den Vorsitz bei der gemeinnützigen Organisation "Pen Paper Peace" – wie kam es dazu? Was konnten Sie bereits bewirken?

Jung: Vor elf Jahren war ich erstmals in Haiti, weil mir ein Freund von einem Projekt erzählt hatte, das ich mir anschauen wollte. Und ich kam mit dem Gefühl zurück, dass ich unbedingt helfen möchte. Ich kann nicht einfach die Augen vor Problemen verschließen und so tun, als gäbe es sie nicht. Aus diesem Gefühl ist dann die Idee entstanden, dass ich vor Ort gerne etwas in Richtung Bildung machen möchte. Für mich ergeben in der Entwicklungszusammenarbeit die Förderung von Bildung und die medizinische Versorgung einfach am meisten Sinn. Ich wollte die Schulen unterstützen, die ich dort kennengelernt hatte. Aus dieser Idee ist dann das Projekt "Schulen für Haiti" erwachsen. Doch das Projekt setzt sich auch für deutsche Kinder und Jugendliche ein. Wir arbeiten hier vor allem an Schulen, um Kindern und Jugendlichen einen Blick über ihren eigenen Tellerrand hinaus in eine global vernetzte Welt zu ermöglichen.

prisma: Gibt es ein Erlebnis in Ihrer Kindheit oder Jugend, das Sie dahingehend geprägt hat?

Jung: Das gibt es tatsächlich. Ich habe als Kind und Jugendliche als Sprecherin fürs Radio gearbeitet. Und da gab es mal einen Beitrag über Straßenkinder in Bukarest, für den ich die Voice Over der Kinder sprechen durfte. Das hat mich wahnsinnig beeindruckt. Daraufhin habe ich mit der Journalistin des Beitrags geredet und ihr gesagt, dass ich sie gerne unterstützen möchte. An der Schule habe ich dann eine Spendenaktion durchgeführt und ihr ungefähr 1.000 D-Mark in die Hand drücken können – ich war damals 14 Jahre alt und 1.000 D-Mark waren wirklich viel Geld, das war ein einschneidendes Erlebnis. Ich hatte von einer Problematik erfahren und konnte sofort etwas tun, um die Situation zumindest ein Stück weit zu verbessern. So ist es nun auch mit "Schulen für Haiti": Die Kinder und Jugendlichen in Deutschland können direkt helfen. So haben wir nach den verheerenden Erdbeben in Haiti 2011 die zerstörten Schulen wieder erdbebensicher aufgebaut und zwei Trinkwasseraufbereitungsanlagen errichtet. 600 Kinder können dort jetzt zur Schule gehen – das ist ein wahnsinnig gutes Gefühl.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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