ZDFinfo-Doku "Die 90er – Jahrzehnt der Chancen"

Loveparade, Arschgeweih und Ernüchterung nach der Wiedervereinigung

von Rupert Sommer

Es war das Jahrzehnt, das Deutschland grundlegend veränderte. Zehn Jahre, in denen das Land eine neue Bedeutung – auch kulturell – erlangte. Ein Bilderbogen für einen langen Sonntagabend (14. Juli) der Erinnerungen – auf dem Spartensender ZDFinfo.

Es ist ein aufwendiges Fernsehprojekt, für das man die Unaufgeregtheit eines kleinen Senders benötigt, den viele vielleicht noch gar nicht auf ihrer Fernbedienung gefunden haben. Von 20.15 Uhr an am Sonntag, 14. Juli, zeigt der Digitalkanal ZDFinfo die dreiteilige, jeweils 45 Minuten lange Doku-Reihe "Die 90er – Jahrzehnte der Chancen" und reiht dabei einen "Weißt du noch?"-Moment an den anderen.

Los geht's mit dem freudigen Moment, der eine neue Ära einläutete – am 3. Oktober 1990 blickten auf dem Balkon des Berliner Reichstags Bundeskanzler Helmut Kohl, der "Kanzler der Einheit", und Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum Klang der Freiheitsglocke auf ein Fahnenmeer. Deutschland mit Ost und West wuchs zusammen. Und der "Chancen"-Anteil im Titel der Reihe hatte tatsächlich noch etwas Hoffnungsvolles.

Doch tatsächlich kehrte nach der Wiedervereinigungseuphorie zu Beginn der Dekade rasch so etwas wie Ernüchterung ein, wie der Nebentitel des ersten Doku-Teils "1990 – 1992: Einheitsrausch und Eierwürfe" klar macht. Die Wirtschaft in den sogenannten fünf neuen Bundesländern bricht angesichts der anhaltenden Landflucht von Ost nach West und der mangelhaften Produktivität zusammen. Betriebe werden geschlossen, der Kanzler wird mit Eiern beworfen. Gleichzeitig hat sich aber auch auf der Weltbühne die Hoffnung zerschlagen, dass mit dem Fall des Eisernen Vorhangs tatsächlich so etwas wie das "Ende der Geschichte" eintritt, wie es der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 in einem viel beachteten Essay beschrieben hatte. Auf dem Balkan, und damit mitten in Europa, brechen brutale Konflikte aus – inklusive der berüchtigten "ethnischen Säuberungen", dem "Unwort des Jahres" 1992, und anderer Gräueltaten.

Wieder eine etwas heiterere Note schlägt dagegen der zweite Teil der Dokureihe an (21.00 Uhr), der die Jahre 1993 bis 1996 unter die Überschrift "Loveparade und Börsenfieber" packt. Immerhin schlägt das neue Deutschland – vor allem auf den vielen zugänglich gewordenen Brachflächen mitten in der Hauptstadt Berlin – im Techno-Takt. Es ist eine Party-Bewegung und eine Musik-Revolution, die als vielleicht letzte großer Massentrend der jüngeren Popgeneration in die Geschichtsbücher einging. Und ohne sogenanntes "Arschgeweih" und ähnlich Tätowierungen konnte man sich kaum auf die Straße trauen.

Für den letzten Teil der Jahre 1997 bis 1999 (21.45 Uhr) hat es der typisch teutonische Rückenschmuck sogar in den Doku-Titel "Bimbeskanzler und Arschgeweih" geschafft. Weiterhin wummern die Techno-Bässe, doch die Spaßgesellschaft formiert sich auch in der bürgerlichen Mitte, etwa wenn Guildo Horn und Stefan Raab ihr Heimatland beim Eurovision Song Contest vertreten. Dafür zeigt die Ära Kohl deutliche Ermüdungs- und Erosionserscheinungen. Letztlich brachte der pfälzische Ausnahmepolitiker sich selbst zu Fall. Und es war genau sein Verhältnis zum Geld, das er verächtlich "Bimbes" nannte, das dann eben doch so viel mehr zählte.

Die Dokus zeigen zahlreiche bekannte und weniger bekannte historische Aufnahmen. Zeitzeugen kommen zu Wort und ordnen die Ereignisse ein, darunter anderem Henry Maske, Sebastian Krumbiegel, Esther Schweins sowie der Journalist Hajo Schumacher.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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