ZDF-Wissenschaftsexperte Harald Lesch

"Wenn wir nicht schnell handeln, fliegt uns die Welt um die Ohren"

Seit zehn Jahren bringt er dem deutschen Fernsehschauer nicht immer leichte Wissenschaftsthemen nahe: Harald Lesch, Professor für Physik an der TU München, dazu Lehrbeauftragter für Naturphilosophie und gesellschaftlicher Querdenker. In den ZDF-Formaten "Terra X" sowie "Leschs Kosmos" erklärt der 58-jährige Tausendsassa vom Klimawandel bis zur Künstlichen Intelligenz die Themen der Gegenwart auf eine Weise, die sie zum Mitdenken und Mitmachen anregt.

Harald Lesch ist ein Mann aus "kleinen Verhältnissen". Er stammt aus einem Dorf in Mittelhessen und aus einer nichtakademischen Familie. Im Gegensatz zu manch smartem, selbstverliebten TV-Moderator geht es dem Mann tatsächlich um die Sache. Im Interview zum Bildschirmjubiläum spricht Harald Lesch über die größten Bedrohungen unserer Welt und wie wir uns noch davor retten könnten.

prisma: Was ist das am meisten unterschätzte Wissenschaftsthema unserer Zeit?

Harald Lesch: Der Klimawandel. Es wird zwar viel darüber berichtet, aber die Größe des Themas ist bisher weder in unsere Hirne noch in unsere Herzen eingedrungen. Wenn wir nicht ganz schnell handeln, wird uns die Welt um die Ohren fliegen. Ein zweites Thema ist die synthetische Biologie. Wir werden sehr bald künstlich Leben erzeugen können. Auch das wird unsere Welt enorm verändern.

prisma: Nun die gegenteilige Frage: Welches Thema wird am meisten überschätzt?

Lesch: Es ist eigentlich nicht ganz fair, dass ich diese Frage beantworte, weil ich nicht von allen Wissenschaftszweigen gleich viel Ahnung habe. Ein Thema, das mir dazu einfällt, ist allerdings die Hirnforschung. Zum Beispiel die Frage, ob wir einen freien Willen haben. Ich würde sie immer mit "ja" beantworten. Sie ist aber wissenschaftlich kaum zu beantworten, da die Innenperspektive eines Menschen nicht messbar ist. Ich glaube nicht, dass man in diesem Bereich durch Forschung nennenswert weiterkommen wird.

prisma: Warum blendet der Mensch bereits erkannte gefährliche Prozesse wie den Klimawandel aus, obwohl er sich damit selbst enorm schadet?

Lesch: Weil wir es als Gesellschaft nicht schaffen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein ökologisch sinnvolles Verhalten begünstigen. Der Mensch ist als Individuum in dieser Hinsicht viel ethischer eingestellt als er in der Masse erscheint. Wir müssen die Leute dazu kriegen, dass sie das ökologisch Sinnvolle automatisch tun. Bisher muss man sich aus der Anonymität der Masse heraus bewegen, wenn man ökologisch handeln will. Stellen Sie sich vor, wir hätten bei jedem Flugticket den Kohlendioxidpreis mit drin. Man könnte aber unten ankreuzen, dass man nichts für den Klimaschutz tun will, worauf man 15 Euro zurückerhält. Ich glaube, viele Menschen würden diese 15 Euro zahlen.

prisma: Bewegen wir uns in Sachen ökologisches Bewusstsein zumindest in die richtige Richtung?

Lesch: Nein, nicht wirklich. Zumindest gibt es Aspekte unseres Alltags, die klar in die falsche Richtung deuten. Wir glauben, dass wir in Deutschland grün und fortschrittlich wären, dabei sind wir der größte Abbauer von Braunkohle weltweit. Die anerkannt schmutzigste Form der Energiegewinnung. Oder ein anderes Beispiel: Ich habe 1978 den Führerschein gemacht, damals gab es Autos mit 34 PS. Wenn Sie heute ein Auto mit 34 PS suchen, lacht sie der Autoverkäufer aus. Unter 100 PS geht da doch nichts mehr. Wir sind in unserer Mobilität komplett übermotorisiert.

prisma: Was bräuchte man, um eine gute, rationale Gesellschaft zu formen?

Lesch: Nun, Rationalität ist ja nicht alles, was eine gute Gesellschaft ausmacht. Dazu gehört auch eine Freude am Leben. Wissenschaft liefert nicht die Werte für ein gutes Leben. Rationalität sollte uns führen, wenn es darum geht, Sachentscheidungen zu treffen. Wissenschaft ist eine gute Grundlage für richtige Entscheidungen. Leider hat man in den letzten zehn Jahren das Gefühl, dass wissenschaftliche Rationalität große Teile der Gesellschaft nicht mehr erreicht.

prisma: Warum ist das so?

Lesch: Die Menschen haben keine Zeit mehr. Sie sind auf unterschiedliche Art ständig unter Druck. Rationalität braucht Ruhe. Wenn ich mich schnell für etwas entscheiden muss, verlasse ich mich auf meinen Bauch. Der kann auch mal falsch liegen. "Gut Ding will Weil haben" – heißt es. Die angesprochene Ruhe haben aber die meisten Menschen heute aber nicht mehr.

prisma: Nicht nur der Zeitdruck, auch die Aggressivität der Menschen untereinander hat zugenommen. Dabei geht es uns Deutschen doch eigentlich gut. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Lesch: Er hat viel mit gefühlter Unsicherheit zu tun. Wir haben heute eine massiv höhere Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse als früher. Dazu kommt der enorme Druck, effizient zu sein. Ich sehe immer mehr Leute, die mit diesen Uhren herumlaufen, die alles messen, was man über den Tag tut. Wo soll das noch hinführen? Das Messen impliziert, dass wir unser Leben immer weiter verbessern sollen. Komischerweise hat dies aber keinerlei positive Auswirkungen auf unser empfundenes Glück.

prisma: Was müsste stattdessen passieren?

Lesch: Wir sollten uns von jenen digitalen Diktatoren lösen, die unser Leben im Griff halten. Schön wäre es, in einem Land zu leben, das großzügiger, langsamer und nicht so verrückt nach Geld wäre.

prisma: Wir verschaffen Sie sich jene Ruhe, von der alle aufgeklärten Menschen reden, die aber so wenige tatsächlich finden?

Lesch: Ich nehme sie mir einfach. Ich besitze zum Beispiel kein Smartphone. Das ist ein unglaublicher Zeitgewinner. Dazu habe ich es einfach gut. Ich lebe als Professor an der Universität in einem gesicherten Arbeitsverhältnis. Ich muss mir über meine wirtschaftliche Existenz keine Sorgen machen. Es ist ein großes Privileg, dass ich mich voll auf meine Arbeit konzentrieren kann. Ich unterrichte einfach gerne, und damit meine ich auch durchaus den Unterricht der Nation, der im Fernsehen stattfindet.

prisma: Sie kommen eigentlich aus einfachen Verhältnissen ...

Lesch: Ja, ich komme aus einem mittelhessischen Dorf und war der erste in meiner Familie, der eine akademische Laufbahn eingeschlagen hat. Ich bin seit 1995 Professor, aber noch heute staune ich manchmal, wenn ich an meinem Büro vorbeigehe. Dann kommen mir immer noch Gedanken wie: "Mein Gott, Harry. Du hast es tatsächlich geschafft." Dabei bin ich nach wie vor ein Dorftyp. Ich mag die Idylle, bin Pfeifenraucher und halte gerne den Ball flach.

prisma: Sie klingen wie ein zufriedener Mensch. Müsste man nicht eigentlich Pessimist sein, wenn man so viel Negatives über den Zustand der Welt weiß wie Sie?

Lesch: Pessimismus ist keine Option, denn er macht alles kaputt: das Glück, die Hoffnung. Ich sehe mich eher wie Sisyphos, der seine Kugel morgens den Berg hinauf rollt. Aber – ich habe den Nachmittag. Und der ist frei. Dann stehe ich auf dem Berg, kann über das Tal blicken und irgendwann wieder runtersteigen, um den Leuten zu erzählen, was ich von da oben gesehen habe. Ich finde, es gibt schlechtere Leben.

prisma: Lasen Sie uns noch mal auf den Hass in der Gesellschaft zurückkommen. Der hat doch nicht nur mit Zeitmangel und wirtschaftlicher Unsicherheit zu tun. Oder?

Lesch: Ich sehe noch eine dritte Sache. Unsere Gesellschaft, und nicht nur die in Deutschland, zerfällt in unterschiedliche Informationstreibhäuser, die sich nur noch mit ihrer eigenen Meinung befeuern. In Amerika stehen sich demokratisch und republikanisch denkende Menschen mittlerweile unversöhnlich gegenüber. Andersdenkende werden aus der Nachbarschaft weggemobbt und müssen umziehen, wenn die Mehrheit um sie herum der anderen Weltsicht angehört. Auch in Deutschland stehen sich politische Meinungen immer unversöhnlicher entgegen.

prisma: Wie konnte das passieren?

Lesch: Daran ist vor allem der Neoliberalismus schuld. Früher standen die demokratischen Gesellschaften der Industrieländer in einem Fahrstuhl – und der fuhr nach oben. Mittlerweile wurde der Fahrstuhl durch Rolltreppen ersetzt. Die einen fahren weiter nach oben, die anderen nach unten. Auf der Straße macht sich ein "Die da oben, wir hier unten"-Gefühl breit. Entsprechende Parolen kann man bei Demonstrationen immer wieder hören. Nichts verletzt den Menschen so sehr, als wenn er sich missachtet fühlt.

prisma: Also ist der Kapitalismus Schuld am Zerfall der Gesellschaft?

Lesch: Nein, nicht der Kapitalismus, sondern nur seine verschärfte Form. Neoliberalität bringt eine Gesellschaft auseinander. Wenn wir aufgefordert werden, zusammenzuarbeiten, ergibt das ein völlig anderes Gesellschaftsmodell, als wenn wir aufgefordert werden, in Konkurrenz zueinander zu treten.

prisma: Also – was waren die Hauptfehler?

Lesch: Die Liberalisierung der Arbeitswelt, die Deregulierung der Finanzwelt. Das sind die Gründe dafür, warum die eine Rolltreppe nach oben und die andere nach unten schießt. Die Ergebnisse sehen wir bei der Kapitalverteilung, Vermögensverteilung, auch bei der Verteilung der Chancen. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache, das hat nichts mit Ideologie oder meiner politischen Meinung zu tun. Wir sollten zusammenleben in Deutschland, nicht gegeneinander.

prisma: Die Idee des Zusammenhalts klingt heute irgendwie altmodisch. Warum ist Gemeinschaft keine populäre Vision mehr?

Lesch: Wegen des beschriebenen gesellschaftlichen Prozesses. Aber – man kann etwas dagegen tun. Ich sage immer: Geht zu Genossenschaftsbanken, nicht zu Privatbanken. Die Politik hat aber immer stärker die Privatbanken unterstützt. Trotzdem gibt es dieses Gemeinschaftsgefühl in Deutschland. Man erlebt es immer dann, wenn Katastrophen wie Überschwemmungen passieren. Dann ist sofort Solidarität da. Es ist nicht so, dass diese Gefühl verschwunden wäre. Es wird nur zu wenig belohnt.

prisma: Wie meinen Sie das?

Lesch: Früher waren ehrenamtliche Tätigkeiten normal. Da hat fast jeder etwas getan: freiwillige Feuerwehr, Engagement im Sportverein, Blutspenden und so weiter. Heute sind derlei Dinge eher die Ausnahme. Das hat mit Zeitgeist, aber auch mit der eigenen Zeit zu tun. Wenn ich mir heute meine Studenten angucke: Seit der europäischen Studienreform von Bologna haben die keinerlei freie Zeit mehr. Ich konnte als Student noch schlendern, die müssen heute rennen. Das erzeugt Stress und macht unglücklich. Wir unterwerfen unser Leben immer mehr einer Taktung – und die Digitalisierung unterstützt diesen Prozess. Wir müssen daran arbeiten, dass wir unser Leben wieder weniger getaktet, sondern in freieren Rhythmen leben.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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