Justiz-Skandal

Netflix-Serie "When They See Us" beruht auf wahrem Fall

von Markus Schu

Was passiert, wenn die Wahrheit stirbt? Filmemacherin Ava DuVernay setzt sich mit einem der größten Skandale der amerikanischen Polizei- und Justiz-Geschichte auseinander. Ein emotionales wie kraftvolles Plädoyer für den Schutz von Wahrheit und Fakten.

New York, 1989: Eine 28-jährige weiße Joggerin wird im Central Park brutal vergewaltigt und zum Sterben zurückgelassen. Im Krankenhaus liegt sie mehrere Tage lang im Koma und kämpft ums Überleben. Die Schuldigen sind schnell gefunden: Vier Afro- und ein Hispano-Amerikaner – allesamt zwischen 13 und 16 Jahren alt. In Wahrheit haben sie mit dem schrecklichen Verbrechen jedoch überhaupt nichts zu tun – teilweise kennen sich die Fünf noch nicht einmal. Sie waren einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Für die Polizei und die Medien sind die Jungs jedoch ein gefundenes Fressen. Auf dem Revier werden die Minderjährigen derart unter Druck gesetzt, ihrer Rechte beraubt und sowohl seelisch wie körperlich drangsaliert, dass sie am Ende ihrer jeweiligen Verhöre nur noch einen Ausweg sehen: alles zugeben, ob es nun stimmt oder nicht. Der realhistorische Fall der sogenannten "Central Park Five" wird nun in der erschütternden, vierteiligen Netflix-Miniserie "When They See Us" (ab 31. Mai) nacherzählt.

Korey (Jharrel Jerome), Antron (in jung: Caleel Harris, später: Jovan Adepo), Yusef (Ethan Herisse/Chris Chalk), Raymond (Marquis Rodriguez/Freddy Miyares) und Kevin (Asante Blackk/Justin Cunningham) sind ein paar ganz normale Jungs aus Harlem, die am Abend des 19. April 1989 zu einer Gruppe von Jugendlichen hinzustoßen, die marodierend und pöbelnd durch Manhattans Central Park zieht. Gewaltbereit sind die fünf Jungs jedoch keineswegs, sie lassen sich einfach nur vom Strom mitreißen und tun niemanden irgendetwas zuleide – und werden trotzdem hinterher zu Sündenböcken stilisiert, um für ein Verbrechen zu büßen, das sie nie begangen haben.

Ein Schlag in die Magengrube

Sie gehen den Staatsanwältinnen Linda Fairstein (Felicity Huffmann) und Elizabeth Lederer (Vera Farmiga) in die Falle: Denn die beiden Frauen wollen aufgrund der miserablen Verbrechensstatistik in der Millionen-Metropole ein Exempel an den Jugendlichen statuieren. Kameramann Bradford Young ("Arrival") klebt förmlich an den Protagonisten und zeigt ihre psychischen wie physischen Qualen in den Verhörräumen in aller Deutlichkeit – die Kids werden Opfer von staatlicher Willkür. Diese Szenen sind ein regelrechter Schlag in die Magengrube des Publikums und bleiben für lange Zeit im Gedächtnis.

Die Handlung der exzellent geschriebenen, stark gespielten und hervorragend inszenierten Miniserie, die unter anderem von US-Talk-Ikone Oprah Winfrey und Schauspiel-Legende Robert De Niro mitproduziert wurde, erstreckt sich über mehrere Jahre: So werden die Jungs auch während der Gerichtsverhandlung, die zur Farce verkommt, und bei ihrem anschließenden Kampf um Gerechtigkeit gezeigt.

Rund 25 Jahre wird es letztendlich dauern, bis ihnen diese zuteil wird. "When They See Us" ist ein unglaublich intensives Gesellschaftsdrama und ein wütendes Plädoyer gegen Rassismus und Machtmissbrauch. Ein brandaktuelles Fanal für die Bedeutung von Fakten, Gerechtigkeit und Wahrheit in einer Welt und einem gegenwärtigen Amerika, das unter dem Joch der alternativen Fakten seines amtierenden Präsidenten zu ersticken droht.

Die Oscar- und Golden-Globe-nominierte Filmemacherin Ava DuVernay hat mit ihrer ersten Serien-Arbeit – in Personalunion als Schöpferin, Regisseurin, Co-Autorin und ausführende Produzentin – ein wichtiges filmisches Dokument geschaffen, das eindringlich vor der Manipulation der Wahrheit warnt und für eine freiheitlich-demokratische Ordnung ohne Korruption, Hass und Gier eintritt. Was in den Händen anderer Kreativer möglicherweise zu einem überambitionierten und allzu didaktischen Werk verkommen wäre, gedeiht unter DuVernays kreativer Schirmherrschaft zu einem meisterlichen Fernseherlebnis, das den historischen Kriminalfall dreißig Jahre später in fiktionaler Form aufarbeitet und damit den Bogen zum derzeitigen status quo der Gesellschaft spannt. Ihr politisches Engagement hat die 46-Jährige bereits in der Vergangenheit mit dem Historiendrama "Selma" (2014) und dem Dokumentarfilm "Der 13." (2016) unter Beweis gestellt – "When They See Us" reiht sich nun perfekt in ihr bisheriges Schaffen ein.

Natürlich wird in der Miniserie auch ganz unverhohlen Kritik an der Administration von Donald Trump geäußert – und sogar dieser Umstand erfährt eine historische Verknüpfung. Denn Trump ließ vor 30 Jahren, als er noch als vermeintlich genialer Immobilienmagnat von sich reden machte, mehrere Anzeigen in den vier großen New Yorker Zeitungen schalten, in denen er im Zuge des "Central Park Five"-Falls für eine Wiedereinführung der Todesstrafe plädierte. Sogar während seiner Präsidentschaftskampagne im Jahr 2016 hielt er die fünf Jungs immer noch für die wahren Täter. Und das obwohl sie 2002 endlich freigesprochen wurden und im Jahr 2014 insgesamt 41 Millionen US-Dollar an Schadenersatz durch die Stadt New York erhielten – für all die langen Jahre, die sie unschuldig im Gefängnis verbringen mussten.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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