Filmperle aus Irland

Auch in leisen Tönen steckt viel Gefühl – Filmkritik zu „The Quiet Girl“

13.11.2023, 13.25 Uhr
von Gregor-José Moser
Wie gut ist das irische Drama?
Wie gut ist das irische Drama?  Fotoquelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Der irische Oscar-Beitrag für den besten internationalen Film, „The Quiet Girl“, musste sich 2023 „Im Westen nichts Neues“ geschlagen geben. Warum die Oscar-Nominierung dennoch gerechtfertigt war, erfahrt ihr in dieser Filmkritik.

Familie kann man sich nicht aussuchen

Liebe, Sicherheit und Geborgenheit – all das sollte in unserer Idealvorstellung das eigene Zuhause bieten. Wie viele Menschen schmerzlich erfahren müssen, ist die Realität jedoch oft eine andere. Sie haben das Gefühl nicht dazuzugehören, in die eigene Familie nicht hineinzupassen. So als ob jemandem ein gewaltiger Irrtum unterlaufen wäre und einem die falsche Familie zugeteilt hätte. Von diesem Gefühl erzählt der irische Film „The Quiet Girl“. Protagonistin ist die erst neunjährige Cáit, ein schweigsames Mädchen, für das sich ihre Eltern nur wenig erwärmen können. Vater und Mutter vernachlässigen die kleine Cáit ebenso wie sie es mit deren drei älteren Schwestern tun. Die Mutter vergisst schonmal ihren Kindern Lunches für die Schule zu machen, der Vater scheint sich gar nicht für sie zu interessieren und wenn, dann ist er aggressiv. Um sie aus dem Haus zu haben, schicken ihre Eltern Cáit über den Sommer 1981 zur Cousine der Mutter und deren Mann aufs Land. Für Cáit erweist sich das als echter Glücksfall.

Langsamkeit als Schwäche…

Mit einem so in sich gekehrten und verschreckten Kind wie Cáit muss behutsam umgegangen werden. Ebenso behutsam erzählt Regisseur und Drehbuchautor Colm Bairéad ihre Geschichte. In jeder einzelnen Szene gibt er der kleinen Cáit alle Zeit der Welt, erzählt mit viele Ruhe und gänzlich ohne Hektik. Einerseits liegt darin die vermutlich größte Schwäche des Films, an der man sich nur allzu leicht stoßen kann. Im sogenannten Mainstream-Kino dominieren inzwischen rasantere Filme, in denen die Handlung schnell vorangetrieben wird. Es gibt klassische Action und/oder emotionale Höhepunkte. Zugegeben – Action erwarten Kinogänger allein schon wegen des Titels sicherlich nicht bei „The Quiet Girl“. In puncto Dramatik und der Handlung sieht die Erwartungshaltung dagegen anders aus – zumindest, wenn man vor allem Hollywoodproduktionen gewohnt ist. „The Quiet Girl“ ist aber ein irischer Indiefilm, was auch spürbar ist und so reihen sich lange Standbilder von der irischen Natur an unaufgeregte Alltagszenen. Mal schält Cáit mit ihrer „Mutter auf Zeit“ Eibhlín in der Küche Kartoffeln. Mal hilft sie ihrem „Vater auf Zeit“ Seán dabei sich um den Hof zu kümmern. Vom Ende einmal abgesehen dümpelt die Handlung ohne große emotionale Höhepunkte vor sich hin und nimmt nie so richtig an Fahrt auf.

…und als Stärke zugleich

„The Quiet Girl“ erzählt damit weniger eine Geschichte, als dass es ein Porträt zeichnet. Ein Porträt über eine Neunjährige, deren Eltern sie eigentlich gar nicht haben wollen. Dabei kommt der Film mit nur wenigen Worten aus. Catherine Clinch, die in die Rolle von Cáit schlüpft, hat nur wenig Text. Ein Umstand, der ihre Leistung nur noch beachtlicher macht, als es mit Blick auf ihr junges Alter ohnehin schon ist. Catherine Clinch spielt herzzerreißend, ohne dafür viele große Momente oder dramatische Monologe zu benötigen. Sie spielt im Kleinen, beinahe unscheinbar, aber trotzdem mit viel Kraft in ihren Emotionen. Etwa wenn sie schüchtern das erste Mal vor ihren entfernten Verwandten steht, den Blick gesenkt hält und unsicher mit ihren Händen spielt. Schauspielerin und Drehbuch setzen also in erster Linie auf die Körpersprache des Mädchens. Auf dem Hof ihrer entfernten Verwandten blüht die kleine Cáit mit der Zeit immer mehr auf. Zwar bleibt sie sich in ihrer wortkargen und ruhigen Art treu. Allerdings sammelt sie auch Selbstvertrauen dank der Förderung und Zuneigung, die sie von den Farmern Seán und Eibhlín Cinnsealach bekommt. Vor allem im Zusammenspiel der drei Figuren ist Cáits Entwicklung herzerwärmend anzusehen.

Eine Frage des Geschmacks

The „Quiet Girl“ entwirft in gut 90 Minuten einen starken Kontrast zwischen zwei so unterschiedlichen Lebensrealitäten, die wir zusammen mit Cáit kennenlernen, aus deren Perspektive der Film erzählt. Wie so häufig ist es letztendlich Geschmackssache, wie sehr einem „The Quiet Girl“ zusagt und emotional erreicht. Für manche Zuschauende können die Szenen, in denen Cáit zum Beispiel zusammen mit Seán Kälber füttert, belanglos erscheinen. Andere sehen darin einen kleinen Moment des Glücks für Cáit, die in ihrem Leben bisher meist vernachlässigt worden ist. Wer selbst Kinder hat oder als Kind ähnliche Erfahrungen machen musste, wird dazu vermutlich leichter einen Zugang finden. Auch, wenn der einzige (ganz) große Moment bis zum Ende auf sich warten lässt. „The Quiet Girl“ erscheint am 16. November 2023 in den deutschen Kinos.

Das könnte Sie auch interessieren