"Polizeiruf 110: Nur Gespenster": Ein Cold Case wird wieder heiß
Vor 15 Jahren verschwand eine Teenagerin. Doch dann werden frische DNA-Spuren von dem Mädchen gefunden. Im dritten gemeinsamen Fall von König (Anneke Kim Sarnau) und Böwe (Lina Beckmann) gehen die "Polizeiruf 110-Ermittlerinnen einem "Cold Case" nach, der wieder heiß wird.
Mit dem schwierigen Liebespaar Bukow (Charly Hübner) und König (Anneke Kim Sarnau) war der Rostocker "Polizeiruf" zwischen 2010 und 2022 fast immer eine Wucht. Eine Naturgewalt, die mit dem Ausstieg von Charly Hübner endete. Im "Polizeiruf 110: Nur Gespenster" ermittelt nun Lina Beckmann zum dritten Mal an der Seite von Sarnau als neue Rostocker Chefin Melly Böwe. Diesmal ist ihr erster Toter, der grausam gefolterte und ermordete Arzt Kai Wülker, offenbar nicht der Kern ihrer Ermittlung. Am Tatort findet sich nämlich aktive – also frische – DNA von Jessica Sonntag, die vor 15 Jahren als Teenagerin verschwand und mittlerweile von ihrem Vater Robert (Holger Daemgen) für tot erklärt wurde.
War der Anruf echt?
Als die Ermittlerinnen Jessicas Mutter (stark: Judith Engel) aufsuchen, treffen sie auf eine zutiefst verletzte Frau, deren förmlich freundliches Verhalten offenbar nur die Maske eines innerlich toten Menschen zu sein scheint. Theaterstar Judith Engel ("Schauspielerin des Jahres" 2001) fasziniert in einer der seltsamsten Episoden-Hauptrollen, die der deutsche Sonntagskrimi in den letzten Jahren zu bieten hatte. Allein wegen ihrer Performance lohnt sich bereits das Einschalten.
Nach dem Verlust der Tochter arbeitet Evelyn Sonntag (Engel) schon länger selbst in der Telefonseelsorge. Dort erhält sie während ihrer Schicht und vor der Sensationsnachricht des DNA-Fundes bereits einen Anruf von ihrer lange vermissten Tochter. Oder hat sie sich diesen nur eingebildet? In den Szenen mit Evelyn Sonntag lässt einen der "Polizeiruf" immer ein bisschen im Unklaren darüber, wie verlässlich diese Frau als Erzählerin ist. Ein irritierendes Moment, das den Film (Buch: Astrid Ströher, Regie: Andreas Herzog) jedoch interessant macht.
Und dann wäre da noch der Sohn der Familie, Mittzwanziger Henrik Sonntag (Adrian Grünewald). Er hat Rostock schon vor langer Zeit verlassen und lässt nun die liebevollen Anrufe seiner Mutter apathisch ins Leere laufen. Dies wäre das Personal dieses Rätsels: ein Vater, der mit der Vergangenheit abgeschlossen hat, eine Mutter, die ihre Hoffnung auf Jessicas Rückkehr nie aufgab und der "kleine Bruder", dessen Stellung in dieser Familie völlig unklar erscheint. Was ist bei den Sonntags tatsächlich vorgefallen?
Komplexe Familiengeheimnisse und subtile Lebenslügen
Astrid Ströher, die sich diese Geschichte ausgedacht hat, ist keine Unbekannte im ARD-Sonntagskrimi-Portfolio. Zuletzt hat die 1971 geborene Autorin zwei Schwarzwald-"Tatorte" geschrieben: "Das geheime Leben unserer Kinder" (2023) und den sehr starken, wenn auch leisen Fall "Saras Geständnis" mit der mittlerweile neuen Münchener "Polizeiruf"-Ermittlerin Johanna Wokalek. In "Saras Geständnis" spielte sie eine Mörderin nach Verbüßen ihrer Haftstrafe, die wieder getötet haben könnte. Wer sich die Filme von Ströher genauer anschaut, stellt fest, dass sie fast immer von komplexen Familiengeheimnissen und subtil inszenierten Lebenslügen erzählen, deren Aufdeckung Zuschauer spannend finden dürften, die gerne genauer hinschauen.
Astrid Ströher-Krimis sind Psychodramen und leise-bittere Familiengeschichten. Auch mit "Nur Gespenster" muss man sich Zeit lassen, um zu beobachten, zuzuhören und die feinen Regungen und Veränderungen der Charaktere nach und nach zu detektieren.
Schweres Erbe für die Ermittlerinnen
Bleibt nach drei Filmen und dem Ablauf des Welpenschutzes die Frage, wie gut das Kommissarinnen-Duo König/Böwe funktioniert. Können Sie das wuchtige Erbe von Bukow/König vergessen machen? Für eine Antwort scheint es fast immer noch zu früh, weil die bisherigen Fälle "Seine Familie kann man sich nicht aussuchen", "Daniel A." und "Nur Gespenster" stets ihre Fallgeschichten in den Mittelpunkt rückten und damit auch punkten konnten – vor allem beim bewegenden Transsexuellen-Drama "Daniel A".
Die Geschichten im Kommissariat, wo nunmehr die "nette Frau Böwe" Chefin ist, was den ramponierten Machomännern vor Ort (Andreas Guenther, Josefg Heynert) überhaupt nicht passt, kommen dagegen bisher als gefühltes Beiwerk daher. Vielleicht ist es nun Zeit, dass die Klasse-Schauspielerinnen Anneke Kim Sarnau und der Hamburger Theaterstar Lina Beckmann selbst zeigen können, was sie drauf haben. Vielleicht wollte man diesbezüglich ein wenig Zeit zwischen dem Power-Duo Bukow/König und seinen Nachfolgerinnen verstreichen lassen. Verständlich wäre es – bei diesem schweren Erbe.
Polizeiruf 110: Nur Gespenster – So. 17.12. – ARD: 20.15 Uhr
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH