Krimi aus Stuttgart

"Tatort: Zerrissen": Das Schweigesystem eines Clans

21.01.2024, 08.16 Uhr
von Eric Leimann

Die Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) bekommen es in  "Tatort: Zerrissen" mit einer kriminellen Familie zu tun. Nach einem Überfall versuchen die Stuttgarter Ermittler den 13-jährigen "Schmieresteher" des Clans zum Reden zu bringen. 

ARD
Tatort: Zerrissen
Kriminalfilm • 21.01.2024 • 20:15 Uhr

Profiverbrecher gegen "Tatort"-Kommissare

Zu Beginn des neuen Stuttgart-Falles, dem "Tatort: Zerrissen", fühlt man sich fast wie im klassischen deutschen Krimifernsehen der 70er- oder 80er-Jahre: Ein Auto fährt gefährlich langsam zu dräuender Musik eine dämmrige Straße entlang. Dort scheint sich ein Juwelier auf den Feierabend vorzubereiten – und wird überfallen. Verantwortlich sind maskierte Täter aus dem langsam fahrenden Auto. Vor dem Laden beobachtet ein Junge das Geschehen. Als eine späte Kundin überraschend den Juwelierladen betritt, kommt es zu dem, was nicht geplant war: Die Frau stirbt, der Über- wird zur Mordfall, und in der nächsten Szene erreichen die Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) den Tatort.

Klassisch sind an diesem "Tatort" nicht nur die gradlinige Exposition des Falles und ein Juwelierladen als Ort eines Verbrechens, da ist auch die anfangs klare Unterteilung in Gut und Böse. Die guten Cops haben nämlich die bösen Familien Maslov und Ellinger im Verdacht. In der Vergangenheit waren sie für ähnliche Raubzüge verantwortlich. Allerdings sind die aktivsten Protagonisten des Clans, Alan Maslov (Nils Hohenhövel) und sein stets gewaltbereit wirkender Bruder (Oleg Tikhomirov), auch sehr erfahren darin, begründete Verdachtsmomente an sich abprallen zu lassen. Es handelt sich um Profiverbrecher.

Der lieb und vernünftig wirkende Junge

Zum Familienclan Maslov/Ellinger gehört auch ihr Cousin David (Louis Guillaume), der vor dem Juwelierladen Schmiere gestanden hat. Mit 13 Jahren ist er noch nicht strafmündig. Auch David Ellingers Familie kann eine astreine Kriminellen-Vita vorweisen. Der Vater sitzt schon lange im Knast, Davids älterer Bruder Theo (Levin Rashid Stein), der David in Visionen erscheint, ist bereits tot. Und dann ist da noch die haltlos desolat wirkende Schwester Julia (Caroline Hellwig). Gemeinsam bringen die Ellingers und die Maslovs nicht viel Lebensperspektive auf die Waage, weshalb Davids einzige Chance wohl die gegenwärtige Unterbringung in einer betreuten Wohngruppe auf dem Land ist.

Hier schwärmt der eigentlich lieb und vernünftig wirkende Junge für seine Betreuerin Annarosa (Caroline Cousin), die ihrerseits Autoritäten und insbesondere die Polizei streng ablehnt. Lannert und Bootz machen David als mögliche Schwachstelle im Schweigesystem des Verbrecherclans aus. Wird die Polizei den "guten Jungen" dazu bringen, seine toxische Familie zu verraten? Oder ist Blut am Ende doch dicker als Wasser?

Maximaler Druck

Das Kreativduo Martin Eigler (Drehbuch, Regie) und Sönke Lars Neuwöhner (Drehbuch) hat schon etliche "Tatorte" in seiner Vita stehen. Darunter einer der besten aus den letzten Jahren: "Der Mann der lügt" von 2018, ebenfalls fürs Stuttgarter Revier, war ein subtiles Meisterwerk psychologischer Erzählkunst. Schaut man sich einige andere Plots von Eigler/Neuwöhner an, zum Beispiel den Ludwigshafener Fall "Der böse König" (2021) über einen Täter mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, fällt auf, dass die beiden Kreativen gern ungewöhnliche Persönlichkeiten in den Mittelpunkt ihrer Geschichte stellen: die notorischen Lügner, den krankhafte Narzissten – und hier?

In "Zerrissen", einem durchaus sprechenden Titel, geht es um den maximalen Druck auf einen Jungen, der – halb Kind, halb Heranwachsender – geradezu unerträglich erscheint. Seine Familie möchte den nicht Strafmündigen für ihre Zwecke instrumentalisieren. Die Polizei, deren Vorgehensweise zwar ermittlungstechnisch nachvollziehbar, aber moralisch auch nicht ganz sauber ist, will den Jungen indes auf ihre Seite ziehen. Vor allem Thorsten Lannert engagiert sich hier, sucht das Vertrauen des Jungen und lässt ihn mit diesem Hintergedanken schon mal seinen alten Porsche fahren.

Und dann gibt es da ja noch Sozialarbeiterin Annarosa, auf die David am meisten hört, aber deren wütende Lebensenergie auch nicht ganz ohne ist. Wird der junge David dem Druck standhalten – oder an ihm zerbrechen?

Solider, doch nicht herausragender Krimi

Ihren neuen "Tatort: Zerrissen" widmen Eigler/Neuwöhner wiederum einem "besonderen Charakter" im Umfeld eines Verbrechens. Nur dass ihr David eigentlich ein ganz normaler Junge ist, der von seinem toxischen Umfeld geradezu aufgefressen wird. Gut beobachtet sind im neuen Stuttgart-Fall das Aufwachsen und die Abhängigkeiten in einer kriminellen Familie. Im abgewetzten Gesicht der Großmutter (stark: die 87-jährige Berliner Schauspielerin Maria Mägdefrau), die beide Familien verbindet, spiegeln sich all der Schmerz und die Verzweiflung über die Lebenswege ihrer Nachkommen wider. Weniger faszinierend und irgendwie ein bisschen blass sind die übrigen Protagonisten.

Dass der junge David als Figur, der man folgen will, nicht zu 100 Prozent verfängt, liegt nicht an der Leistung ihres Darstellers, sondern daran, dass hier ein "Spielball der Mächte" als Zentrum der Geschichte nicht gut genug funktioniert. Zudem hätte man die angedeuteten Vorwürfe in Richtung Polizei, dass ihre Methoden ethisch betrachtet nicht viel besser sind als die der Verbrecher, noch etwas genauer ausarbeiten können. So bleibt unterm Strich ein tatsächlich klassischer (es gibt sogar eine Verfolgungsjagd!) Krimi, der ordentlich, aber nicht herausragend ist. In der Schule vergäbe man ein "befriedigend".

Tatort: Zerrissen – So. 21.01. – ARD: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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