2020 ist Schluss

Lindenstraße – die Lieblingsserie der Nation ist eben doch nicht ewig

von Frank Rauscher

Als die Lindenstraße zum ersten Mal über die deutschen Mattscheiben flimmerte, war Helmut Kohl Bundeskanzler und die Band a-ha stand der Spitze der deutschen Charts. Jetzt wurde bekannt: Hans W. Geißendörfers Kultformat soll eingestellt werden!

Die "Lindenstraße" wird eingestellt! Die Fernsehprogrammkonferenz der ARD, so lief es am Freitagmittag im trockenen Nachrichtenduktus über die Medienticker, habe sich "mehrheitlich gegen eine Verlängerung des Produktionsvertrags entschieden". Wie der Westdeutsche Rundfunk in Köln weiter mitteilte, soll die letzte Folge im März 2020 laufen. Es ist also immerhin ein Ende mit langem Anlauf, ein Abschied auf Raten, der noch genügend Zeit lässt, die Meriten von Hans W. Geißendörfers eben doch nicht ewiger Kultserie angemessen zu würdigen.

Als die "Lindenstraße" vor fast genau 33 Jahren zum ersten Mal über den Äther lief, war die Skepsis zunächst groß. Keiner wartete auf eine Fernsehserie, die aus dem banalen deutschen Alltag erzählt: von Menschen, die so leben, so sind, so aussehen wie jeder Ottonormalbürger. Damals ahnte aber auch noch keiner, auf welches Kleinstmaß der Abstand zwischen TV-Protagonist und Zuschauer noch schrumpfen sollte und dass es einmal einen Fernseh-Hype namens "Reality-TV" geben wird. Es waren andere Zeiten, in denen die "Lindenstraße" eine im deutschen Fernsehen beispiellose Erfolgsgeschichte begründete: Damals konnte man noch provozieren, indem man den Deutschen den Spiegel vorhielt.

Die erste Seifenoper im deutschen Fernsehen

Im Rückblick könnte man fast darüber schmunzeln, dass das Lebensgefühl in der BRD im Spätherbst des Jahres 1985 erstaunlich viel mit dem Thema Wald zu tun hatte: Die Agenda prägte zum einen die gerade im ZDF gestartete Schnulzenserie "Die Schwarzwaldklinik", andererseits war da auch die Diskussion um das "Waldsterben", die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzog und in geradezu apokalyptische Visionen mündete. So war das eben seinerzeit in Westdeutschland: Die breite Masse war nicht weniger vergnügungssüchtig als heute, aber vor dem Hintergrund von Umweltzerstörung und Kaltem Krieg politisch bei Weitem bewegter, nur aus der TV-Unterhaltung wurden Politik und Relevanz damals noch strikt herausgehalten. Dann kam Hans W. Geißendörfer mit seiner "Lindenstraße".

Geißendörfers wöchentliche Fernsehserie, die erste Seifenoper im deutschen TV, bildete von der ersten Folge im Advent 1985 an nicht nur auf mithin erschreckend realitätsnahe Art den Familienalltag ab, sie legte auch sofort eine klare Haltung an den Tag, mischte sich ein, war streitbar – und erzielte damit enorme Reichweite. Wenn die zuletzt unter schwachen Quoten leidende "Lindenstraße" (immer sonntags, 18.50 Uhr, im Ersten) ihrem Ende entgegentaumelt, gilt es, sich auch daran zu erinnern: dass dieses ARD-Format einst richtungsweisend war.

Wenn es um die "Lindenstraße" geht, weiß niemand besser Bescheid als Mutter Beimer: Sich die Serie anzuschauen, findet die mit ihrer Rolle fest verwachsene Marie-Luise Marjan, sei "wie eine große Zeitung lesen – oder mehr als das: Wie ein Blick aufs eigene Leben". Die Schauspielerin war als Familienglucke Helga schon mit von der Partie, als am 8. Dezember 1985 die erste Folge (Titel: "Herzlich willkommen") aus dem fiktiven Beimerschen Heim in Millionen gutbürgerliche Wohnzimmer gesendet wurde, und sie avancierte zwischenzeitlich zu einer gefühlten "Mutter der Nation", die das Erfolgsgeheimnis der "Lindenstraße" sehr präzise in Worte zu fassen vermag: Die Serie, so Marjan, "ist nicht seicht, sie liefert Diskussionsstoff, Sichtweisen und manchmal auch unbequeme Auseinandersetzung".

Die "Lindenstraße" war ein Ereignis

Was im Programm von heute fast trotzig und wie das biedere Relikt aus analogen Zeiten wirkt, war früher ein Ereignis: Regelmäßig mehr als zehn Millionen, manchmal 15 Millionen Zuschauer fieberten in den 80er-Jahren Woche für Woche mit. Über die Familien Beimer, Flöter, Sarikakis oder Zenker sprachen die Leute damals so, als würden sie von Nachbarn, Freunden und Verwandten erzählen. Die Alltagsgeschichten aus der "Lindenstraße", sie wurden selbst zum Bestandteil westdeutschen Alltags. Und genau das war auch der Plan des Erfinders Hans W. Geißendörfer.

"Es gab mehrere Motive", antwortet Geißendörfer auf die Frage, warum er damals gegen gar nicht so wenige Widerstände die Seifenoper des deutschen Nullachtfuffzehn-Alltags bei der ARD durchboxte: "Ich wollte viele, viele Menschen erreichen, weil ich mir einbildete, dass ich etwas zu sagen hätte, das etwas radikal Humanistisches und Politisches in sich trägt. So kam es, dass die 'Lindenstraße' vom ersten Moment an eine Haltung hatte." In der Tat hat die deutsche Kultserie viele heiße Eisen angepackt: Drogenmissbrauch, Integration oder Rechtsradikalismus wurden verhandelt, und heute geistern natürlich Themen wie Flüchtlingskrise oder Terrorgefahr durch die Plots.

Wirkliche Pionierarbeit leistete Geißendörfers Dauerbrenner vor allem beim Thema Homosexualität. "Der politische Kommentar war von der allerersten Minute an unsere volle Absicht", erklärt der Produzent, der gleich in der allerersten Folge schlägernde Neonazis auf den Plan treten ließ und 1990 den ersten schwulen Fernsehserien-Kuss und 1997 die erste Hochzeit eines schwulen Paares im deutschen TV inszenierte. "Wir haben klar gemacht, dass Schwule auch liebenswerte Menschen sind und dass sie nicht ausgegrenzt gehören. Wir bauten eine Brücke, mit der wir hartgesottene Konservative dazu brachten, ihre Haltung zu überdenken", erinnert sich der Filmemacher, der sich nicht nur einmal mit der Politik anlegte.

Mitte der 80er-Jahre regierte Helmut Kohl ein Volk, das sich noch über die lustigen Anfänge des Privatfernsehens wunderte, von einem Medienoverkill nichts ahnte und von der Wiedervereinigung nur träumen konnte. Die Menschen in der BRD richteten ihren Fokus auf den Arbeitsplatz-Erhalt und die Familie, und sie waren eben auch politisch interessiert – auf Demos zu gehen, galt noch nicht als uncool. Es war der perfekte gesellschaftliche Nährboden, um ein Soapformat mit realen Bezügen gedeihen zu lassen. Die "Lindenstraße" war die Lieblingsserie einer Nation, die noch mit einer gewissen Ehrfurcht aufs TV-Gerät blickte und "Wetten, dass ..?" zur größten Show aller Zeiten machte. Damals passte das alles zusammen. Doch das Rad der Zeit dreht sich immer schneller. Die "Lindenstraße" hatte zuletzt einen Zuschauerschnitt von zweieinhalb Millionen und erreicht nur noch selten zweistellige Marktanteile, "Wetten, dass ..?" wurde längst eingestellt.

Til Schweiger hielt 39 Folgen lang durch

Den Vater der "Lindenstraße", der die Leitung vor drei Jahren an seine Tochter Hana abgegeben hat, zeichnete über drei Jahrzehnte ein geradezu eiserner Durchhaltewille aus – was man von "seinen Kindern" nicht uneingeschränkt sagen kann. Wer hat die "Lindenstraße" nicht alles besucht und wieder verlassen in all den Jahren? Der prominenteste Darsteller aller Zeiten, nur die Älteren werden sich erinnern, ist ein gewisser Til Schweiger. Er spielte in 39 Folgen als Jo Zenker mit – bevor er 1992 ausstieg, um Superstar zu werden. Auch eine Ulrike C. Tscharre, die von 2001 bis 2006 als Marion Beimer zum Ensemble gehörte, ist heute eine vielbeschäftigte Klasseschauspielerin.

So einen Karriereweg hatten viele auch Christian Kahrmann vorausgesagt, der mit 13 Jahren in die "Lindenstraße" kam und bis 1993 den Beimer-Spross Benny gab. Heute betreibt er in Berlin ein Café. Auch Kultfigur Willi Herren, der als Olli Klatt in der "Lindenstraße" eine Legende war, ist bekanntlich von Schweigers Erfolgs-Sphären Lichtjahre entfernt. Andere, wie der noch immer als Klaus Beimer vor der Kamera stehende Moritz A. Sachs, wurden hingegen in der "Lindenstraße" groß, Stars wie Marie-Luise Marjan oder Joachim Hermann Luger, der "Hansemann", Helgas untreu gewordenen Ex-Gatten verkörperte, lebten ihr halbes Leben in und mit der Serie.

Als sich die Eheleute Beimer 1991 trennten, regte das ganz Deutschland auf. Luger erinnert sich, dass er beim Einkaufen noch nach vielen Jahren von wildfremden Menschen als "Ehebrecher" tituliert wurde. "Die Leute haben Unterschriften gesammelt, in Bamberg haben sie auf der Straße demonstriert", sagt Marie-Luise Marjan. "Die Menschen wollten halt festhalten können an dem, woran sie glaubten: an der Familie, die immer zusammenhält."

Die kleinen und die großen Aufreger, sie ploppten über all die "Lindenstraßen"-Jahre regelmäßig hoch. Auch in den letzten Jahren wurde manches heiße Eisen angepackt. Rentner, die zu Cannabis griffen, ein junger Mann, der sich als Callboy verdingt ... Und immer wieder Geschichten rund um den Themenkomplex Migration und Integration – die "Lindenstraße" war auf der Höhe der Zeit. Zuletzt sorgte sie mit der Inszenierung des Todes von Hans Beimer für Schlagzeilen (2,84 Millionen Menschen wollten das Ende der Ära mit Joachim Luger im September mitverfolgen – ein letzter kleiner Quotenerfolg). Aber das Grundrauschen der Vorabendserie liefert stets der profane Alltag, das Leben, das sich in den seltsam vertraut wirkenden Wohnungen der "Lindenstraße" abspielt und schon die eigentümlichsten Kultfiguren hervorbrachte – von der ewig Spiegeleier kochenden Mutter Beimer bis zur unvergessenen "Spinatwachtel" Else Kling, verkörpert von der 2006 verstorbenen Annemarie Wendel.

Der VW Golf unter den TV-Formaten

Geißendörfer wollte mit seiner "Lindenstraße" von Anfang an etwas von der Banalität des richtigen Lebens einfangen. Dem Alt-68er ist viel mehr als das gelungen: Die "Lindenstraße" gehört für viele Menschen irgendwie dazu, zum Sonntagabend, vielleicht zum ganzen Leben. Sie ist der VW Golf unter den deutschen Fernsehformaten. Die Serie fesselte, sie nervte und langweilte uns, aber sie war immer da und stets grundsolide.

Sie läuft und läuft und läuft, die "Lindenstraße", so zuckten wohl auch die schärfsten Kritiker bei jeder neuen Vertragsverlängerung mit den Schultern – ob man sie nun mag oder nicht, sie gehört halt einfach dazu. Dachte man. Nun ist aber tatsächlich bald Schluss.

Offensichtlich ist die Entscheidung der Verantwortlichen maßgeblich auf das schwindende Publikumsinteresse zurückzuführen: "Wir müssen nüchtern und mit Bedauern feststellen: Das Zuschauerinteresse und unsere unvermeidbaren Sparzwänge sind nicht vereinbar mit den Produktionskosten für eine solch hochwertige Serie," ließ sich Volker Herres, Programmdirektor im Ersten, zitieren. Herres betonte allerdings, dass es allen Beteiligten keinesfalls leicht gefallen sei, das Ende der Sendung zu besiegeln: "Denn die 'Lindenstraße' ist eine Ikone im deutschen Fernsehen, die uns seit Jahrzehnten begleitet. Sie ist Spiegelbild der Geschichte und Entwicklung unserer Republik. Sie hat Akzente gesetzt, die prägend bleiben werden – ein Verdienst engagierter, leidenschaftlicher Macher."


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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