ARTE-Doku

"Pop Utopia": Blumenkinder, die Macht der Lieder und "Je t'aime"

von Eric Leimann

Mit einer zweiteiligen Musik-Doku startet ARTE in den "Sommer of Dreams". Es geht um freie Liebe, die Macht von Pop-Musik und die ersten Kopolationsgeräusche in den Medien.

ARTE
Pop Utopia
Dokumentation • 10.07.2020 • 21:45 Uhr

Freier Sex war mal eine Utopie. An manchen Orten der Welt ist er es immer noch. Dass Serge Gainsbourgs und Jane Birkins "Je t'aime" in der Auftaktdoku zur sommerlichen ARTE-Popkulturreihe, die in diesem Jahr unter dem Motto "Summer of Dreams" steht, herhalten muss, ist eigentlich logisch. Wann schafft es schon mal ein französischsprachiger Song in die heiligen Hallen der Welthits. Gar nicht einverstanden ist mit dieser Sichtweise jedoch Sängerin und Feministin Peaches, die dem Lied ein wütendes "screw that" hinterherwirft. Peaches nachvollziehbare Begründung: "Der Song bietet eine rein männliche Perspektive. Er sagt, ich geh rein und raus aus dir. Und sie antwortet: Ja, du gehst rein und raus aus mir. Wo ist da die weibliche Perspektive?"

Scharfsinnige Momente wie diesen hätte man sich öfter gewünscht in "Pop Utopia", der zweiteiligen Dokumentation, die in die Kapitel "Der Traum von Gerechtigkeit" (21.45 Uhr) und "Flucht in den Traum" (22.40 Uhr) unterteilt ist. Tatsächlich dominieren in Teil eins die hoffnungsvollen Töne – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Lieder wie "We Shall Overcome" (Hymne der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Anfang der 60-er) oder John Lennons "Imagine" ("Hymne aller Menschen, die überhaupt nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll", wie ein Interviewter im Film sagt) werden in ihrem historischen Kontext erklärt. Die Macht der Lieder von deutschen "Experten" wie Till Brönner (Jazztrompeter mit Weltkarriere) oder Iris Berben (Schauspielerin mit 68er-Hintergrund) beschworen. Natürlich sind auch der ehemalige Kommunarde Rainer Langhans sowie die ehemalige Grünen-Chefin Claudia Roth, noch früher: Musikmanagerin, wieder mal zu Gast in einer solchen Doku. Von französischer Seite hat sich die Kulturjournalistin Sarah Doraghi als Moderatorin dieses losen Trips durch sechs Dekaden Popgeschichte und Utopie verdingt.

Nicht, dass es in der Doppel-Doku nichts Interessantes zu lernen gäbe. Zwischendurch erfährt man, dass Martin Luther Kings "Traumrede" beim Marsch auf Washington 1963 zu den meistgesampleten der Popgeschichte gehört oder dass die mittlerweile weißhaarige Patti Smith keine großen Stücke auf die Weltveränderungs-Power von Musik hält: "Künstler können inspirieren, aber sie verändern nichts. Dafür braucht man Politik und Massen." Auch schön, noch einmal die mittlerweile verstorbene Aretha Franklin auf der Amtseinführung des ersten schwarzen US-Präsidenten, Barack Obama, singen zu hören – ein Moment für Tränen, gerade, wenn man an die wohl noch auf den letzten Drücker in den Film hineingetexteten Bezüge zur Corona-Pandemie und den aktuellen "People of Color"-Protesten in den USA denkt.

Etwas ärgerlich wird es dann im zweiten Teil, wenn den Blumenkindern zum gefühlt 20. Mal großer Raum gegeben wird, einfach, weil sich die Sommer-Popschwerpunkte ARTEs immer wieder in die Zeit der 68-er und folgenden 70-er verbeißen. Wie angenehm war dagegen ein Pop-Schwerpunkt wie der über die "90-er", wo man endlich mal andere Themen als die ewige Woodstock- und Flowerpower-Chose in Dokus aufarbeiten konnte: ARTE, ein Sender mit viel Ambition und guter finanzieller Ausstattung, der nicht so sehr auf die Quote schielen muss, könnte seine Popthemen in dieser Hinsicht durchaus etwas kreativer besetzen.

"Die kleinen LSD-Plättchen hat man damals immer wieder mal eingeworfen", fällt Iris Berben zu diesem Thema ein. Und der Pop-Journalist Tobi Müller kommentiert – immerhin unterhaltsam – zur etwa 50. Analyse des Jefferson Airplane Hits "White Rabbit" (über einen psychedelischen Trip) bei ARTE: "Die Eltern trinken Alkohol, um sich von der Arbeit zu erholen, die Blumenkinder konsumieren LSD, um nicht arbeiten zu müssen." Am Ende, auch das weiß man bereits, scheitern die Blumenkinder an harten Drogen, Gewalt wie auf dem kalifornischen Altamont-Festival 1969 oder an sich selbst. Ihr Lebensmodell, sagt Jefferson Airplane Gründungsmitglied Jorma Kaukonen (bis 1974, Gitarre, Gesang) war jedoch damals schon ein Auslaufmodell.

Immerhin adeln der Musikjournalist Jans Balzer "Je t'aime", das ebenfalls 1969 erschien, als ersten Song, der Kopulationsgeräusche in die Medien brachte ("Eine Pornoindustrie entstand damals ja erst"). Und Rufus Wainwright, schwuler Songwriting-Großmeister, erinnert an die Macht der queeren Bewegungen im Pop, die in die 70-ern mit Bands wie den gecasteten Boys von Village People ("YMCA") viel Aufmerksamkeit und Akzeptanz für andere Lebensformen hervorriefen. Auch Judy Garlands Rolle – von deren Song "Somewhere Over The Rainbow" stammt das Regenbogen-Symbol der Bewegung – ruft Wainwright noch einmal in Erinnerung. "Der Song baut eine Art Brücke und bahnt einen Ausweg aus jeder Art von Unglück." Schöner kann man es wohl nicht sagen. Der vielleicht klügste Satz dieser Sammelsurium-Auftaktdoku von Hannes Rossacher und Karsten Gravert fällt jedoch gegen Ende wiederum durch Peaches. "Populäre Musik geht selten sehr tief – aber ihre Macht besteht darin, dass viele zuhören."


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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