Maria Furtwängler feiert 2022 ihr Jubiläum als "Tatort"-Kommissarin Charlotte Lindholm. Offenbar will sich die 55-Jährige nun noch einmal neu erfinden – und das deutsche Fernsehen gleich mit verändern. Zu Weihnachten präsentiert sie schon mal einen "Tatort" mit Udo Lindenberg.
In ihrem ersten selbst produzierten "Tatort" verändert Maria Furtwängler ihre "Tatort"-Ermittlerin Charlotte Lindholm in neue, ungeahnte Richtungen. Der Weihnachts-Fall "Alles kommt zurück" (Sonntag, 26. Dezember, 20.15 Uhr, Das Erste) wartet zudem mit ziemlich ungewöhnlichem Personal auf: Udo Lindenberg spielt in seinem "Wohnzimmer", dem Hamburger Hotel Atlantic, eine zentrale Gastrolle, und Starregisseur Detlev Buck drehte seinen ersten "Tatort".
Wie die ungewöhnliche Zusammenarbeit zustande kam, warum Charlotte Lindholm jetzt zu einer "Alice im Wunderland" samt Sexversprechen wurde und was Maria Furtwänglers Kampf um Gerechtigkeit für benachteiligte Gruppen im Fernsehen bislang gebracht hat, darüber spricht die Langzeit-Kommissarin im Interview.
prisma: Ist es richtig, dass am Anfang dieses "Tatorts" die Idee stand, einfach mal was mit Udo Lindenberg zu machen?
Maria Furtwängler: Ja. Ich kenne Udo, seitdem er mich fragte, ob wir für "MTV Unplugged" einen Song gemeinsam singen wollen. So Carla Bruni-mäßig, meinte er. Als er mich anrief, bin ich fast vom Hocker gefallen. Nach dem Duett haben wir vereinbart, dass ich mich mit einer Einladung zum "Tatort" revanchiere. Aber damals gab es noch kein passendes Projekt.
prisma: Kann Udo Lindenberg denn überhaupt etwas mit dem "Tatort" anfangen?
Maria Furtwängler: Er ist ja sozusagen seit 1970 mit dem Format verbunden, weil er in der Band von Klaus Doldinger die Titelmusik trommelte. Er sagte damals auf typische Udo Art so in etwa: "Du, Maria, lass doch mal zusammen 'Tatort' machen" (lacht). Udo kennt sich verdammt gut aus im Fernsehen und ist ganz klar "Tatort"-Fan. Und als dann unser Autor Uli Brée mit der Idee für diesen Fall rüberkam, war klar, dass wir das jetzt machen werden.
prisma: Wurde überlegt, dass Udo Lindenberg nicht sich selbst, sondern eine richtige Rolle spielt?
Maria Furtwängler: Nein. Ich finde, das geht nicht. Der Mann ist eine Ikone und absolut unverwechselbar. Udo musste Udo bleiben, so haben wir von Anfang an geplant. Das kongeniale Einbinden des Unikats Udo in den Kontext des "Tatorts" entspringt der Zusammenarbeit von Uli Brée und Detlev Buck als Regisseur. So entstand die Idee, Udos Hotel Atlantic in eine sowohl magische als auch unheimliche Welt zu verwandeln – und das Hotel wie eine eigene Figur zu behandeln.
prisma: Die Kreativen Ihres "Tatorts" nennen "Alice im Wunderland" als Inspirationsquelle. Darin folgt die Titelheldin einem weißen Kaninchen in dessen Bau und betritt eine Märchenwelt ...
Maria Furtwängler: Genau! Charlotte Lindholm ist Alice mit ihrem blauen Kleid, und das Kaninchen ist bei ihr ein Date mit Sexversprechen, das sich leider als Mordfall herausstellt. Charlotte taucht ab in diese märchenhafte, gruselige Hotelwelt mit all den Udo-Lindenberg-Doubles und wird selbst als Täterin verdächtigt. Ihr kleiner Liebesausflug nach Hamburg wird zum absoluten Albtraum einer Kommissarin. Sie befindet sich auf der falschen Seite bei der Vernehmung ...
prisma: Sie haben im echten Hotel Atlantic in Hamburg gedreht. Wie viele Hotelgäste fragten, ob sie mitspielen dürfen?
Maria Furtwängler: Wir haben mitten im Lockdown gedreht, das Hotel gehörte sozusagen uns. Das war natürlich logistisch fantastisch, denn wir konnten überall und zu jeder Zeit drehen. So konnte unsere Kamerafrau Bella Halben sorgsam sehr besondere Bilder komponieren.
prisma: Zum ersten Mal waren Sie auch Produzentin eines "Tatorts" – sozusagen ihre eigene Chefin. Wie fühlte sich das an?
Maria Furtwängler: Ich habe schon seit einigen Jahren eine Produktionsfirma. Da war es naheliegend, dass wir uns auch für einen "Tatort" bewerben. Ich hatte dem NDR speziell diesen Film als Produktion angeboten, weil er ja aus der Freundschaft mit Udo entstehen sollte und es eben ein etwas anderer "Tatort" werden würde. Wir haben es mit ziemlich vielen für das Format ungewöhnlichen Elementen zu tun. Zum Beispiel Detlev Buck, der noch nie fürs TV gedreht hat. Oder Uli Brée, der bisher nur den österreichischen Tatort geschrieben hat. Ja, ich bin stolz darauf, dass wir das gemeinsam so hinbekommen haben.
prisma: Detlev Buck ist ein erfahrener Regisseur. Aber auch einer, der sehr speziell ist und nicht unbedingt ein Format bedienen will. War es ein Risiko, ihn für einen "Tatort" zu engagieren?
Maria Furtwängler: Ja, das kann man so sagen. Ich wusste nicht, was ich bekomme, wenn ich Detlev Buck als Regisseur für einen "Tatort" verpflichte. Der ganze Film war ein Risiko. Einfach, weil es kein Vorbild, kein Vergleichsmodell gab. Er ist poetisch, märchenhaft und bisweilen sehr lustig. Sobald man den klassischen Krimi-Weg verlässt, und das tut man mit Buck und Lindenberg, läuft man immer Gefahr, dass man Leute verwirrt. Mein Eindruck ist: Wir sind ungewöhnlich, aber auch sehr unterhaltsam!
prisma: Sie spielen Charlotte Lindholm nun seit fast 20 Jahren. Man hat das Gefühl, dass Ihre Figur zuletzt immer persönlichere und krassere Dinge durchmacht. Haben Sie keine Lust mehr darauf, immer nur die kühle Kommissarin zu bleiben?
Maria Furtwängler: Wenn eine Figur sich so öffnet, sich so verletzlich zeigt wie Charlotte in diesem Fall, ist das auch immer eine intensive schauspielerische Herausforderung. Letztlich sehnt man sich auch gerade nach solchen Aufgaben. Aber wenn der Film ein starkes Thema hat, bei dem die Kommissarin nicht im Mittelpunkt steht, ist mir das auch sehr recht. In den letzten Jahren gab es tatsächlich hier und da eine stark mitgenommene Charlotte. Ich war sofort begeistert, dass "Alles kommt zurück" in gewisser Hinsicht mit dem "Tatort: Der Fall Holdt" verbunden ist. Wie, das darf man zuvor nicht verraten. Aber es gibt eine Verbindung, obwohl die beiden Filme natürlich extrem unterschiedlich sind.
prisma: Wo Sie offenbar gerade in vielerlei Hinsicht zu neuen Ufern aufbrechen ... wird Charlotte Lindholm nach diesem Fall überhaupt nach Göttingen und zu ihrer Ermittlungspartnerin zurückkehren?
Maria Furtwängler: Auf jeden Fall ja, auch wenn es uns in Hamburg so gut gefallen hat (lacht) ...
prisma: Sie sprechen jetzt als Figur Charlotte Lindholm oder als Maria Furtwängler?
Maria Furtwängler: Na ja, als Figur erst recht. Charlotte ist bekanntlich nach Göttingen strafversetzt worden und möchte möglichst schnell wieder weg, ans Landeskriminalamt nach Hannover zurück. Stattdessen hängt sie mit dieser nicht ganz einfachen Kollegin in der Provinz herum.
prisma: Verfolgen Sie neben dem "Tatort" derzeit noch andere Projekte?
Maria Furtwängler: Es gibt zwei sehr schöne Projekte 2022, von denen ich hoffe, dass sie zustande kommen. Neben dem "Tatort" haben wir dieses Jahr die zweite Staffel einer sehr schrägen Serie für TNT und die ARD Mediathek zusammen mit Annettes Hess und Anke Greifeneder entwickelt: "Ausgebremst". Eine dritte Staffel mit dieser völlig durchgedrehten Fahrlehrerin auf Abwegen fänd ich toll. Aber ich erlebe nun auch als Produzentin, wie anspruchsvoll es ist, die richtigen Stoffe für den richtigen Sendeplatz zu entwickeln und wie lange es dauern kann, bis ein Film endlich gemacht wird.
prisma: Aber gibt es nicht gerade einen Nachfrage-Boom für Fiction, weil so viele neue Streamer nach Content lechzen?
Maria Furtwängler: So einfach ist es nicht. Ja, es gibt mehr Anbieter als früher. Die Streamer in Deutschland produzieren vielleicht pro Jahr fünf bis acht deutsche Serien, aber sie bekommen pro Tag etwa zehn Angebote auf den Tisch. Es herrscht ein verdammt harter Konkurrenzkampf da draußen – trotz des Serien- oder auch Fiction-Booms.
prisma: Sie haben vor einigen Jahren die Geschlechter-Debatte im Fernsehen angestoßen, indem Sie darauf hinwiesen, wie wenig Anteil Frauen im Medium haben. In den letzten Jahren scheint sich viel getan zu haben, sind Sie zufrieden mit der Entwicklung?
Maria Furtwängler: Mit der Arbeit der MaLisa Stiftung ist es uns gelungen, gefühlte Veränderungen oder Eindrücke mit Zahlen zu belegen oder zu widerlegen. Manchmal stellt man dabei fest, dass sich nicht ganz so viel verändert hat, wie man das vielleicht glaubte. Die neuen Zahlen belegen, dass in manchen Bereichen etwas passiert ist, aber in anderen auch noch gar nichts.
prisma: Wo ist etwas passiert – und wo nicht?
Maria Furtwängler: Ganz toll ist, dass sich in der Fiktion der Anteil männlicher und weiblicher Hauptfiguren annähert. Das heißt, Frauen sind jetzt häufiger in Hauptrollen zu sehen, und sie dürfen auch etwas älter sein als zuvor. Es hat uns überrascht, dass gerade dort die größte Veränderung zu sehen war, weil uns die Sendervertreter zuvor noch klargemacht hatten, dass es in der Fiktion länger dauern würde, bis sich Veränderungen bemerkbar machen. Weil der Weg von der kreativen Idee bis zum fertigen Film auch gerne mal mehr als zwei oder drei Jahre dauert.
prisma: Wie sieht es mit dem non-fiktionalen Fernsehen aus. Haben die Frauen dort auch aufgeholt?
Maria Furtwängler: Ja, in einigen Bereichen schon. Es gibt aber auch Bereiche, die sind Männerdomänen geblieben. Vor allem im Bereich der Experten und Expertinnen. Nach wie vor erklären uns mehrheitlich Männer die Welt. Oder wenn es eine Erklärstimme im Hintergrund gibt, ist diese immer noch zu 80 Prozent männlich. Da sind die Sender gefordert, mehr kompetente Frauen zu finden und sichtbarer zu machen. Expertinnen oder Experten zu einem Thema werden ja stets sehr aktuell eingeladen. Da bedarf es eigentlich keines Entwicklungsvorlaufs ...
prisma: Fühlen Sie sich ausreichend unterstützt – von den TV-Sendern?
Maria Furtwängler: Unbedingt, die Zusammenarbeit bei den Studien war sehr angenehm, und ich bin stolz darauf, was wir mit angestoßen haben. Es steht für mich außer Frage, dass den Sendern, öffentlich-rechtlich wie privat, viel an der Gleichstellung der Geschlechter liegt und dass das Thema Diversität insgesamt eine wachsende Rolle spielt. Unsere Gesellschaft verändert sich, das muss auch in den Sendungen noch sichtbarer werden.
prisma: Wie werden Sie weiterarbeiten?
Maria Furtwängler: So wie bisher – mit Zahlen. An ihnen kommt man einfach nicht vorbei. Mit Zahlen kann man belegen, ob und wie Vielfalt im Fernsehen stattfindet und wo noch Bedarf besteht. Als wir damals sagten, dass es viel zu wenige Frauen im Fernsehen gibt, deren Geschichten erzählt werden, meinten viele Leute: "Maria, das kann nicht sein! Schau dir allein die vielen Kommissarinnen an." Aber die Zahlen lügen nicht. Eine geringere Sichtbarkeit von Frauen oder auch von Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Beeinträchtigungen – das ist eine Form von Diskriminierung. Und es geht nicht nur darum, wie oft etwas sichtbar ist, sondern es geht auch darum, stereotype Erzählmuster zu durchbrechen. Ambivalente Frauenfiguren, homosexuelle Paare bei denen die sexuelle Orientierung in der Geschichte aber keine Rolle spielt. Oder Menschen mit Behinderung selbstverständlich miterzählen, das ist der nächste Schritt.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH