Lebhafte Diskussion bei "Anne Will": Aiwanger-Affäre als "ein Riesenproblem" für die Demokratie?
Anne Will ist mit ihrer Talk-Runde aus der Sommerpause zurückgekehrt und ist gleich mit einer hitzigen Debatte gestartet. Diskutiert wurde über die "Flugblattaffäre" um Hubert Aiwanger, dem Chef der Freien-Wähler. Politologin Nicole Deitelhoff sah in dem Zusammenhang ein noch viel größeres Problem für die Demokratie.
Vor zwei Wochen hatte die "Süddeutsche Zeitung" in einem ersten Artikel über jenes antisemitische Flugblatt berichtet, das vor mehr als 35 Jahren im Schulranzen des damals 17-jährigen Hubert Aiwainger (Freie Wähler) gefunden worden war. "Wie groß ist der Schaden für die politische Kultur?", fragte Anne Will in Bezug auf die Affäre und deren Folgen in ihrer ersten Sendung nach der Sommerpause am Sonntag im Ersten.
Für was steht der Freie-Wähler-Chef heute?
Wichtig sei zunächst die Frage: "Wofür hat er sich entschuldigt?", erklärte die deutsch-ukrainische Publizistin Marina Weisband (Bündnis 90/Die Grünen): "Er sagt gleichzeitig, dass es ihm leidtut, dass er aber auch nichts getan hat." Weisband hätte sich gewünscht, dass Aiwanger die Menschen in seiner Entschuldigung "mit auf die Reise [nimmt], die in ihm in den letzten 35 Jahren passiert ist, dass er sich von einer faschistischen Hetzschrift innerlich distanziert hat, dass er verstanden hat, warum diese einzelnen Punkte so grausam waren und dass er dafür die Öffentlichkeit um Entschuldigung bittet".
Zur Überraschung Wills betonte sie jedoch auch: "In diesem Fall ist mir auch egal, was der Mann vor 35 Jahren gemacht hat." Weisband konkretisierte: "Mir geht es alleine darum, wer dieser Mann ist, der sich jetzt zur Wahl stellt." Eine explizite Entschuldigung gegenüber der jüdischen Gemeinde lehnt sie ab, denn: "Antisemitismus ist kein Problem der jüdischen Gemeinde. Antisemitismus ist ein Problem der deutschen Kultur."
Natürlich müsse man mit den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, aber auch mit der gesamten Gesellschaft ins Gespräch kommen und über den heutigen Umgang mit Antisemitimus diskutieren, meinte auch Florian Streibl, Fraktionschef der Freien Wähler in Bayern. Eine vollständige Aufarbeitung zum derzeitigen Zeitpunkt, mitten im bayerischen Wahlkampf, lehnte er allerdings ab: "Das Bierzelt ist kein Beichtstuhl", erklärte er.
"Das Bierzelt ist kein Beichtstuhl"
"Wirklich, Herr Streibl?", entgegnete Will überrascht: "Sie behaupten, die Freien Wähler sind das Bollwerk gegen den Antisemitismus. Dann sind die das doch auch im Bierzelt. oder nicht?" Streibl wand sich: "Das bin ich auch." Die Aufarbeitung müsse jedoch anderswo stattfinden, denn: "Wenn es jetzt im Wahlkampf käme, würde es auch völlig falsch verstanden werden. Dann würde man sagen: Das macht er doch nur, weil gerade Wahlkampf ist."
Deutliche Kritik kam derweil vom ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein (CSU): "Ich finde das Flugblatt unendlich blöd und verantwortungslos. Mir bleibt eigentlich der Atem weg, wenn man dieses Flugblatt liest", echauffierte der 79-Jährige. Auch Aiwangers Umgang mit den Vorwürfen sei "alles andere als vernünftig und professionell": "Er hat wochenlang Möglichkeit gehabt, Stellung zu beziehen. Warum er das nicht gemacht hat, ist mir absolut rätselhaft."
Die Entscheidung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU), Aiwanger im Amt zu behalten, sei jedoch richtig, auch wenn Aiwangers Antworten auf die 25 Fragen des Koalitionspartners nicht befriedigend gewesen seien.
"Wir haben in der Tonalität danebengelegen"
Freie-Wähler-Mann Streibl wiederum betonte, seinen Parteikollegen nie als Antisemiten wahrgenommen zu haben. Dem stimmte auch Roman Deininger, Chefreporter der "Süddeutschen Zeitung", zu: "Der Politiker Hubert Aiwanger ist nie mit Antisemitismus aufgefallen. Was den Antisemitismus angeht, führt keine direkte Linie von der Schulzeit Hubert Aiwangers zu der Erdinger Kundgebung, bei der er mit dem Satz aufgefallen ist, dass die schweigende Mehrheit sich die Demokratie zurückholt. Es führt aber durchaus eine direkte Linie von seiner Reaktion auf das Flugblatt jetzt zu dieser Erdinger Rede."
Bei beiden Anlässen habe Aiwanger "die demokratische Reife" eines Staatsmanns vermissen lassen: "Den 17-Jährigen müssen wir mit Milde betrachten, den 52-Jährigen muss man streng beurteilen", fuhr er fort. In der Vergangenheit habe er Hubert Aiwanger oft gegen Vorwürfe verteidigt. Doch "wenn wir jetzt sagen würden: Der Hubert Aiwanger meint das nicht so, da müssen wir jetzt nicht so genau sein, dann normalisieren wir Dinge, die wir nicht normalisieren sollten in diesem Land."
Zur Veröffentlichung des "SZ"-Artikels bezog der 45-Jährige zweierlei Stellung: "Die Kollegen haben, was die Recherche angeht, sauber gearbeitet." Auch bestehe öffentliches Interesse "an Dingen, die jemand in einem hohen Staatsamt auch vor langer Zeit getan hat". Es seien rund 20 Quellen aus Aiwangers Umfeld befragt worden.
Allerdings gestand der Journalist auch Fehler ein: "Wir haben in einem von vielen Artikeln, aber in einem prominenten am Anfang in der Tonalität danebengelegen. Wir haben den Eindruck erweckt, wir würden nicht mit maximaler Fairness gegenüber Hubert Aiwanger agieren."
"Darauf getrimmt, immer auf die Krise zu gucken"
Viel wichtiger als die politische Zukunft Hubert Aiwangers ist der Politologin Nicole Deitelhoff ein anderer Aspekt der derzeitigen Diskussion: "Worum es uns eigentlich gehen muss, ist, was ist im Umgang mit diesen Vorwürfen passiert für die politische Kultur, ich würde sagen für die Demokratie. Was ist da an Gefahren drin?" Die Medienlandschaft sei zum einen "durch zwei Jahrzehnte Krisen darauf getrimmt worden, immer auf die Krise zu gucken" und stets noch mehr herauszuholen.
Der andere wichtige Aspekt betreffe die Frage, welche Verantwortung Politiker für das demokratische Miteinander wahrnähmen. Die Vehemenz, mit der Aiwainger wie auch andere Politiker vor ihm, das Thema in eine politische Kampagne gegen sich selbst umgemünzt hätten, erinnere sie an die "klassische Strategie der Rechtspopulisten". Natürlich habe es derartige Tendenzen in der Politik schon immer gegeben: "Aber die Konsequenz, mit der der politische Gegner zum Feind denunziert und diffamiert wird, ist neu." Das geschehe inzwischen auf allen Seiten des politischen Spektrums.
Die Friedens- und Konfliktforscherin vom Leibniz-Institut betonte: "Wir erleben immer mehr, dass es nicht um die Sache geht, sondern dass sofort auf den politischen Gegner eingehämmert wird, und das ist ein Riesenproblem." Wenn sich politische Gegner jedoch nicht mehr als gleichberechtigte Teilnehmer einer Diskussion wahrnähmen, verlasse man den Boden der Demokratie.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH