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"Freistatt": Die Körperlichkeit geht unter die Haut

von Hans Czerny

In ihrem Drillich und mit den Arbeitsmützen wirken sie wie die Gefangenen eines Konzentrationslagers in der NS-Zeit. "Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten hinaus ins Moor", singen sie, wenn sie zur Arbeit ins niedersächsische Moor hinausziehen, um Torf zu stechen. Doch der nun auf 3sat wiederholte Kinofilm "Freistatt", nach dem Ort des Geschehens benannt, spielt keineswegs in der NS-Zeit, sondern in der Bundesrepublik der späten 60er-Jahre.

3sat
Freistatt
Drama • 31.01.2018 • 22:25 Uhr

Der 14-jährige Wolfgang (Louis Hofmann) wird von seinen Eltern, insbesondere vom Stiefvater, in ein evangelisches Erziehungsheim geschickt und sieht sich dort schlimmster Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt. Aber die Unterdrückung ruft in ihm auch immer wieder Rebellion hervor.

Gleich zu Beginn deutet sich die neue Freiheit der späten 60er an. Wolfgang fetzt mit seinem Mofa durch die Gegend – es ist die Zeit von "Sex, Drugs and Rock'n'Roll". Die Jugend erwacht, wird aufmüpfig und setzt sich zur Wehr. Auch bis zur Kanzlerschaft Willy Brandts und der neuen sozialliberalen Regierung ist es nicht mehr weit. Doch das Heim der Bodelschwingschen Anstalten, in das Wolfgang eingewiesen wird, erweist sich als wahre Folterkammer, sowohl körperlich als auch psychisch. Der Nationalsozialismus scheint sich – als hätte es nie eine Stunde Null gegeben – hier nahtlos fortgesetzt zu haben.

Prügel und Psychotricks 

Marc Brummund, der Regisseur dieses Debütfilms von 2015, kennt mit dem Zuschauer keine Gnade. Der muss das schon aushalten – die harten Ohrfeigen und die Prügel, aber auch das heuchlerische Mitleid und die Psychotricks der Vorgesetzten, die sich in diesem Falle "Brüder" und "Oberbrüder" nennen. Die Körperlichkeit des Films geht unter die Haut. Dabei wagen sich Regie und Drehbuch (Nicole Armbruster, Marc Brummund) aber auch weit in tiefenpsychologische Sphären vor. Wolfgangs Liebe zur Mutter wird, teils in Traumszenen bis hin zum Exzessiven, nicht umgangen. Und als Wolfgang zum ersten Mal die Tochter des Heimleiters umarmt, kommt es, was sonst, beinahe zu einer Vergewaltigung.

Trostloser hat man aber auch eine Weihnachtsfeier, bei der der Herr Pfarrer über die Trennung von den Eltern auf banalste Weise hinwegzutrösten versucht, nie gesehen. Dieses "Oh, du fröhliche" ist ein Grabgesang, nichts anderes als ein weiteres Moorsoldatenlied. Dabei erweist sich allerdings auch Brummunds Meisterschaft im Indirekten. Wenn er sonst immer in die Vollen geht und dabei sicher das Vorbild amerikanischer Sklavenhalterfilme im Auge hat, deutet er hier die Abhängigkeit eines Zöglings von einem Vorgesetzten nur an. Er zeigt die fatale Bindung des Jungen an den Erwachsenen, die aus einer psychischen Vergewaltigung so etwas wie eine Pseudoliebe werden ließ.

Opfer und innerer Rebell zugleich

Der Hauptdarsteller Louis Hofmann (Bayerischer Filmpreis 2014, "Dark"), 2017 europäischer Shooting-Star der Berlinale, ist als Wolfgang immer Opfer und innerer Rebell zugleich. Wenn sich der Film auch an Hollywood orientieren mag und Exzesse oder Gefühlsausbrüche stets zu forcieren versucht, bleibt Hofmann immer bei sich. Man spürt, dass der Film ein authentisches Vorbild hat und dass Wolfgangs Geschichte genau so tausendfach in kirchlich organisierten Heimen passiert sein dürfte. Erst spät, nach der Jahrtausendwende, drang das Unglück hinter den Mauern dieser Erziehungsheime ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die Betreiber zeigten Reue und wirkten sogar mit am Film. Für eine Umkehr ist es sicher nie zu spät.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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