"Systemsprenger": Was, wenn das Kind duch alle Raster fällt?
Der Film "Systemsprenger" ergriff 2019 die Gemüter und wurde zu einem preisgekrönten Drama. Im Mittelpunkt steht dabei ein "Problemkind", das durch alle Raster der Kinder- und Jugendhilfe.
Wohngruppen, Pflegefamilie, Sonderschule und immer wieder auch die psychiatrische Klinik: Bernadette, die rigoros "Benni" genannt werden will, hat all diese Institutionen schon durch. Das neunjährige Mädchen ist das, was man in der Jugendhilfe hinter vorgehaltener Hand einen "Systemsprenger" nennt – ein Kind, das bereits durch alle Maschen der Kinderfürsorge gefallen ist. Mehrere Jahre hat Dokumentarfilmerin Nora Fingscheidt intensiv für ihr Spielfilmdebüt recherchiert, das bei der Berlinale 2019 einen Silbernen Bären erhielt und es in die Vorauswahl für den Auslands-Oscar 2020 schaffte. Das ZDF wiederholt das mitreißende Drama nun zu später Stunde.
Innere Wut lässt alles vergessen
Gespielt wird diese vor Lebensenergie nur so strotzende Benni von der während der Dreharbeiten erst zehnjährigen Helena Zengel. Atemberaubend verkörpert sie das innerlich zerrissene, verletzlich-aggressive Mädchen: Ruhige Phasen, in denen Bennis unermessliche Sehnsucht nach ihrer Mutter oder wenigstens irgendeiner anderen festen Bezugsperson deutlich wird, wechseln sich ab mit Momenten, in denen sie rot (oder vielmehr: pink) sieht, wie eine Berserkerin um sich schlägt, sich selbst und andere schwer verletzt oder ihre Erzieher mit Messern bedroht.
Meist rastet die engelsblonde Antiheldin mit der pinken Lieblingsjacke aus, wenn jemand ihr ins Gesicht fasst – Folge eines frühkindlichen Gewalttraumas, wie man im Verlauf des Films erfährt. Dann färbt sich das ganze Bild pink, gefolgt von unscharfen, stakkatoartig geschnittenen Schlaglichtern auf ihr bisheriges Leben. Als Zuschauer lässt sich in Momenten wie diesen der Grund für ihre grenzenlose Wut erahnen.
Hilft Ruhe in einer Waldhütte?
Dabei hat Benni noch Glück, gibt es in ihrem Leben doch – neben all den wechselnden Erziehern – auch Menschen innerhalb des Systems, die konstant um sie bemüht sind. Die Sozialarbeiterin Frau Banafé (großartig: Gabriela Maria Schmeide) kümmert sich rührend um das Mädchen und versucht stets, Benni noch irgendwo unterzubringen, obwohl immer weniger Institutionen sich das zutrauen.
Auch Micha (Albrecht Schuch), ihr neuer Schulbegleiter und ausgebildeter Gewalttrainer, der normalerweise mit straffälligen Jugendlichen arbeitet, begegnet Benni mit echter Empathie. Er geht das Wagnis ein, mit dem unberechenbaren Mädchen drei Wochen allein in seiner Waldhütte zu verbringen, damit sie zur Ruhe kommt.
Kameramann Yunus Roy Imer findet auch hier wieder Bilder, die den Zuschauer die Gefühlswelt Bennis hautnah miterleben lassen. Doch auch da wird in einer herzzerreißenden Szene, in der Benni im Wald lautstark nach ihrer Mutter ruft, überdeutlich, dass sie eigentlich nur eins möchte: zurück zu ihrer labilen Mutter Bianca (Lisa Hagmeister), die ihre Tochter zwar liebt, aber nicht mit ihr zurechtkommt. Dennoch verspricht sie ihr fatalerweise immer wieder, sie demnächst aus dem Heim zu holen, nur um im letzten Moment einen Rückzieher zu machen.
Auf der Suche nach Halt
So folgt auf jede Szene mit einem Fünkchen Hoffnung ein Rückschlag – Gefühle, die man als Zuschauer dieses überaus faszinierenden Films aushalten muss, um einen differenzierten Einblick in die Tücken des Systems zu bekommen. Was dem sensiblen Mädchen fehlt, ist Halt, ist eine feste Bezugsperson. Doch das gibt das überlastete System nicht her – im Gegenteil. Menschen wie Gewalttrainer Micha, der das Mädchen zu nah an sich heranlässt und Rettungsfantasien entwickelt, sehen sich gezwungen, den "Fall" wieder abzugeben, da sie sich nicht mehr "professionell" verhalten können. Mit fatalen Auswirkungen auf Benni, deren Gebaren nicht nur ein einziger markerschütternder Schrei nach emotionalem Halt ist, sondern auch die Schwachstellen des Systems bloßlegt.
Systemsprenger – Mo. 06.11. – ZDF: 00.20 Uhr
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH