Sängerin Kerstin Ott

"Die Zeit rast nur so an mir vorbei"

von Emma Schmidt

Mit ihrem Lied "Die immer lacht" wurde Kerstin Ott aus dem Nichts zum Star. Im Interview spricht sie über ihre Kindheit, traumatische Erlebnisse auf der Bühne und ihre Rolle als Underdog in der Schlagerwelt.

Vor zwei Jahren landete Kerstin Ott mit dem von Stereoact produzierten Song "Die immer lacht" einen Megahit. Etliche Edelmetall-Auszeichnungen, zwei Musikautorenpreise und vier Echo-Nominierungen später veröffentlicht die 36-Jährige ihr zweites Album "Mut zur Katastrophe". Ott, die aus dem norddeutschen Kleinstädtchen Heide kommt und ein bewegtes Leben hinter sich hat, möchte mit der neuen Platte zum Ausdruck bringen, dass es sich durchaus lohnt, Risiken und steinige Wege in Kauf zu nehmen. 

prisma: Frau Ott, müssen Sie sich eigentlich manchmal selbst kneifen, wenn Sie auf die vergangenen zwei Jahre zurückblicken?

Kerstin Ott: Das ist stellenweise schon unglaublich. Ich habe ja lange Zeit einen ganz anderen Job gehabt, nämlich als Malerin und Lackiererin. Die letzten zwei Jahre kam alles so komprimiert – die Zeit rast nur so an mir vorbei.

prisma: Sie haben den Song "Die immer lacht" 2005 geschrieben, elf Jahre später entdeckte das Produzenten-Duo Stereoact ihn, und er wurde zum Hit. Die Geschichte kann man sich besser nicht ausdenken.

Ott: Das stimmt wohl. Ich habe den Song ja nicht einmal selbst ins Internet gestellt, ich habe mich wirklich überhaupt gar nicht darum bemüht, dass er in irgendeiner Form bekannt wird. Wenn ich darüber nachdenke, wie viele verschiedene Faktoren da zusammenkommen mussten – das ist wirklich wie ein Film. Ich glaube sowieso an Schicksal, aber wenn ich mir diese verrückte Geschichte angucke, wüsste ich auch nicht, was ich anderes denken sollte.

prisma: Sie waren im Chor von Rolf Zuckowski und haben bei Talentwettbewerben mitgemacht. Haben Sie schon immer davon geträumt, Sängerin zu werden?

Ott: Eben nicht. Die Sache mit Rolf Zuckowski kam durch meine Lehrerin, die fand, dass ich ganz gut singen kann. Da war ich acht oder neun Jahre alt, und es war nicht so, dass ich unbedingt in einen Chor wollte. Bei dem Talentwettbewerb wiederum habe ich nur mitgemacht, weil ich damals so verliebt in meine beste Freundin war. Sie wusste von meiner heimlichen Liebe nichts, also habe ich ihr ein Lied geschrieben. Das ging aber tierisch in die Hose.

prisma: Inwiefern?

Ott: Ich war so aufgeregt, dass ich auf der Bühne einen Blackout bekam und das Lied gar nicht richtig vortragen konnte. Da waren über 2000 Leute in der Halle, darunter auch viele Freunde von mir. Das war eine super-peinliche Aktion. Ich war damals 16, und in dem Alter steckt man es nicht so leicht weg, wenn es mal nicht läuft. Ich habe mir an dem Tag geschworen, nie wieder eine Bühne zu betreten. Und ich habe wirklich jahrelang nicht vor anderen gesungen. Das hat mir einen richtigen Schock verpasst.

prisma: So einen Blackout hatten Sie letztes Jahr wieder, und zwar bei einem Live-Auftritt in der TV-Sendung "Guten Morgen Deutschland". Was war da los?

Ott: Mir fiel das erste Wort einfach nicht ein. Das ist natürlich eine blöde Situation, wenn du dort stehst und die Sendung live ist. Die darauffolgenden Minuten machen es nicht gerade besser, man wird immer steifer und kann irgendwann gar nicht mehr denken. Zum Glück hat meine Frau Karoline mir das erste Wort irgendwann zugeflüstert, und ich konnte loslegen.

prisma: Wie haben Sie das weggesteckt vor dem Hintergrund, dass Sie das Erlebnis als Teenager so traumatisiert hat?

Ott: So hart bin ich nicht mit mir ins Gericht gegangen. Die Situation war doof, aber was willst du machen? So etwas kann passieren. Ich bin ja keine Maschine. Also ich war zum Glück nicht so am Boden zerstört wie damals. Am Ende war es sogar gute PR (lacht).

prisma: Ihr neues Album "Mut zur Katastrophe" handelt im Grunde genau davon: von dem Mut, Risiken einzugehen und nach dem Scheitern wieder aufzustehen.

Ott: Es ist wichtig, die eigene Komfortzone zwischendurch auch mal zu verlassen und Neues zu wagen. Klar kann man dabei auf die Nase fallen und muss dann vielleicht neu starten, aber das gehört zum Leben dazu. Ich finde, das wird im Alltag oft vergessen. Wir haben alle immer unfassbar viel zu tun in unseren Jobs, und das Menschliche bleibt leider oft auf der Strecke. Dadurch, dass man immer funktionieren muss.

prisma: Abgesehen von dem verkorksten Talentwettbewerb: Wann sind Sie in Ihrem Leben gescheitert und wiederaufgestanden?

Ott: Ich habe wie jeder andere Mensch Höhen und Tiefen im Leben gehabt und daraus gelernt. Das fing damit an, dass ich auf Frauen stehe und mich relativ früh geoutet habe. Damals war das alles noch ein bisschen anders, und natürlich habe ich die eine oder andere Ausgrenzung erlebt. Ich finde es wichtig, solche Themen aufzugreifen, damit junge Leute, die heute in der Situation sind, sich daran vielleicht orientieren können. Damit sie wissen, dass die Welt danach nicht untergeht, sondern eigentlich schöner wird.

prisma: Ihre aktuelle Single "Regenbogenfarben" ist eine Hymne auf Toleranz, Offenheit und Vielschichtigkeit. Wo stehen wir da im Jahr 2018?

Ott: Das ist sehr gemischt. Dadurch, dass es in den Medien aufgegriffen wird, ist schon alles offener geworden. Ich glaube aber auch, dass viele Menschen immer noch auf dem Standpunkt sind, dass das eine Krankheit ist. Das macht mich natürlich traurig. Ich weiß, dass ich die Menschen nicht verändern kann in ihrem Denken – aber vielleicht kann ich mit dem Song den Menschen, die sich in dieser Situation befinden, etwas Halt geben und sagen: Wenn ihr nicht jedem gefallt, ist das einfach so.

prisma: Wie lief Ihr Coming-out?

Ott: Ich hatte eine ältere Bekannte, die sich damals geoutet hatte und die wirklich ganz böse Worte abbekommen hat. Das hat mir zunächst Angst gemacht. Ich habe mich dann zusammen mit meiner ersten Freundin geoutet. Wir waren uns einig, dass wir das nicht geheim halten wollen, weil das Quälerei ist. Mir war klar: Irgendwann muss ich da durch, ich kann davor nicht wegrennen. Ich habe damals auf dem Dorf gewohnt, 30 Kilometer von Heide entfernt. Da lebten viele Landwirte und Alteingesessene. Meine Freundin und ich haben damals abgemacht, dass wir uns nicht in der Öffentlichkeit abknutschen. Ich glaube diese Mischung aus Ehrlichkeit und Distanz war gut, damit die Menschen sich langsam daran gewöhnen konnten.

prisma: Im Oktober haben Sie Ihre Lebensgefährtin geheiratet – und ihr auch den Titelsong des Albums gewidmet.

Ott: Das war tatsächlich das erste Lied, das ich fertig hatte. Die Zeile stammt aus einem Zitat, das ich mal gelesen habe. Es lautete: Wahre Liebe findet, wer Mut zur Katastrophe hat. Das fand ich so schön und auch so wahr, dass ich es für den Song übernommen habe.

prisma: Was bedeutet dieser Satz für Sie?

Ott: Er bedeutet für mich, dass man immer am Ball bleiben muss in einer Beziehung und dass eine Beziehung auch nicht wie ein Strich verlaufen darf. Ich sage immer: Das ist wie ein EKG. Wenn du diesen geraden Strich hast, bist du tot. Es geht hoch und runter, aber das gehört alles dazu. Wir streiten uns auch ab und zu und haben kleine Katastrophen, aber wenn man vernünftig darüber redet, kriegt man alles in den Griff.

prisma: Mut zum Risiko, Scheitern – das sind nicht gerade Themen, die man im Schlager oft hört. Dort wird meist eher eine heile Welt besungen. Sehen Sie sich als Gegenentwurf zu solchen Normen?

Ott: Ich glaube genau das ist es, was meine Musik so erfolgreich macht. Diese heile Welt in Form von Text oder auch Mensch, der da auf der Bühne steht, haben die Leute zur Genüge. Es gibt viel mehr Leute, die darstellen, perfekt zu sein, als Leute wie mich. Ich höre ganz oft, dass ich ein bisschen der Underdog bin, und ich empfinde das als Kompliment, muss ich ganz ehrlich sagen. Sich in diesem Geschäft nicht zu verstellen ist auch eine Art von Stärke.

prisma: Um Perfektion und den Online-Selbstdarstellungswahn geht es auch in dem Stück "Das macht mal alles ohne mich".

Ott: Sporadisch mache ich da natürlich auch mit. Bevor ich im Musikbusiness war, hatte ich keine Accounts in all den sozialen Medien, aber jetzt gehört es zu meinem Job. Ich glaube aber, ich mache das ganz ausgewogen, so dass es in Ordnung ist. Wenn ich sehe, wie viel andere Menschen so posten und was sie alles posten, denke ich manchmal, sie bekommen das Leben gar nicht mehr mit. Sie gucken nur noch auf ihr Handy und erschaffen irgendwelche total tollen Situation, die in Wahrheit gar nicht da sind – nur für dieses Foto oder Video. Das finde ich schon relativ skurril.

prisma: In "Lichter deiner Stadt" hingegen singen Sie von Ihrer Heimat Heide in Holstein, oder?

Ott: Genau. Es geht in dem Song um all jene Menschen, die ich jeden Tag sehe und die irgendwie schon zum Stadtbild gehören. Einer zum Beispiel heißt Bodo, der fährt immer mit seinem Fahrrad und hat, egal wie warm oder kalt es ist, ein T-Shirt an. Wenn er einen Bekannten sieht, springt er fast vom Fahrrad, um ihn zu begrüßen. Oder Linda, die läuft mit ihren Einkaufstüten, in denen eigentlich nichts drin ist außer Papier, kilometerweit durch die Stadt, auf hochhackigen Schuhen und mit knallrotem Lippenstift. Ich freue mich immer, wenn ich die sehe, denn irgendwie bedeutet es doch, dass man zu Hause ist.

prisma: Hat sich Ihr Leben in Heide verändert?

Ott: Dadurch, dass ich plötzlich medial so vertreten bin, hat sich natürlich etwas verändert. Manche klopfen mir auf die Schulter, aber andere sagen auch "Was für eine Eintagsfliege".

prisma: So erfolgreich "Die immer lacht" auch war: Viele haben den Song ...

Ott: Gehasst!

prisma: Berührt Sie das?

Ott: Am Anfang war das schon merkwürdig. Ich war dem nie ausgesetzt, dass ich so bewertet wurde. Das war sehr gewöhnungsbedürftig. Inzwischen sage ich mir, das gehört dazu, gerade wenn man erfolgreich ist. Man gucke sich nur das Beispiel Helene Fischer an. Ich höre eigentlich immer nur, wie doof sie alle finden, aber das ist die erfolgreichste Künstlerin, mit den meistverkauften Alben. Ich versuche, mir darüber nicht so viele Gedanken zu machen.

prisma: Im Oktober erscheint Ihre Autobiografie. Ganz schön früh, oder?

Ott: Am Anfang meiner Karriere habe ich mit Absicht nicht viel Privates preisgegeben. Ich wollte das aus der Öffentlichkeit so gut es geht heraushalten. Das Buch gibt mir die Möglichkeit, wirklich meine Sicht der Dinge zu schildern – ohne, dass es durch irgendwelche Klatschblätter verfremdet wird.

prisma: Was erfahren die Leser über Kerstin Ott, das sie vorher nicht wussten?

Ott: Zum Beispiel, dass ich nicht zu Hause aufgewachsen bin, sondern in verschiedenen Pflegefamilien und Heimen. Oder dass ich ganz lange spielsüchtig gewesen bin. Ich möchte damit zeigen, dass mein Leben wirklich eine Achterbahnfahrt gewesen ist, aber wenn man dranbleibt und fleißig bleibt, kann es alles wieder gut werden. Bei Auftritten oder Autogrammstunden sagen mir die Leute oft, dass meine Lieder ihnen Mut machen oder ich ein tolles Beispiel für einen ganz normalen Menschen bin, der es trotzdem geschafft hat. Die eine oder andere Seele mit dem Buch vielleicht etwas mutiger zu machen, ist der Hauptansporn für mich.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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