TV-Sender ohne Quotenvorgabe

Phoenix und die neue Medienwelt

von Kai-Oliver Derks

Der TV-Sender Phoenix setzt sich tapfer gegen die Gesetze der Medienwelt zur Wehr und will dabei eine gesellschaftspolitische Diskussion über den Journalismus von heute anstoßen.

"Das ganze Bild" – Immer mal wieder wurde in der Vergangenheit über diesen Slogan diskutiert. Zuletzt auch beim Relaunch 2018, als Look des Senders, Studios und Auftreten der Journalisten der modernen Zeit angepasst wurden. Der Leitsatz aber blieb. Phoenix (hier geht's zum aktuellen TV-Programm des Senders) versteht sich nicht als Nachrichtenkanal, hetzt nicht durch die News des Tages, entsagt sich dem modernen Häppchenjournalismus, der dem Bürger nur noch wenige Zeilen oder Sekunden zutraut. Man will sich inhalts-, nicht quotengetrieben geben. Ein Konzept, das auf den ersten Blick so gar nicht mehr in die neue Zeit passen will, in der sich die Mehrzahl der Menschen vieles nehmen will – nur sicher keine Zeit für ausführliche Nachrichten.

"Wir wollen, dass der Zuschauer die Komplexität von Themen besser durchblickt. Und ich glaube fest daran, dass es auch in einer sich zunehmend polarisierenden und immer schneller agierenden Gesellschaft weiterhin Menschen gibt, die sich Zeit nehmen. Die nach Angeboten wie Phoenix suchen." Im modernen Medienzeitalter hat Helge Fuhst, seit Januar 2018 ARD-Programmgeschäftsführer von Phoenix, eine weitere Marktlücke ausgemacht: Es geht um Journalismus, der nur neutral sein will, der nur berichtet. Und das in aller Ausführlichkeit.

Seit 22 Jahren gibt es Phoenix, einst installiert als Ereignis- und Dokumentationskanal, der er bis heute ist. Rund 90 Mitarbeiter arbeiten für den Sender, der in Bonn seinen Sitz und in Berlin dazu ein Studio hat. Ebenso viele freie Mitarbeiter kommen hinzu. Phoenix wird ausschließlich aus Rundfunkbeiträgen finanziert. Der Jahresetat umfasst rund 34 Millionen Euro. Zum Vergleich: Die öffentlich-rechtlichen Anstalten nahmen mit dem Rundfunkbeitrag zuletzt jährlich etwa 7,8 Milliarden Euro ein.

Geleitet wird der Sender von zwei gleichberechtigten Programmgeschäftsführern, von denen je einer von der ARD und vom ZDF entsandt wird. Michaela Kolster (54) wurde vom ZDF berufen, von der ARD ist es Dr. Helge Fuhst. Mit 35 Jahren gehört er zu den jüngsten Programmverantwortlichen, die die ARD je hervorgebracht hat. Geboren in Hannover, aufgewachsen an der Nordsee, studierter Politikwissenschaftler. Früh zog es ihn in die USA, wo er zunächst für NBC und danach schon für die ARD im Studio Washington arbeitete. Es folgten NDR, WDR an der Seite des Intendanten Tom Buhrow und schließlich, einstimmig durch die Intendanten gewählt, Phoenix. Eine Karriere wie aus dem ARD-Bilderbuch.

Quotenvorgabe? Fehlanzeige!

Nun müssen er und Kolster ein Programm fortentwickeln, das sich den eigenen Vorgaben folgend deutlich von der anderen unterscheidet. Nicht nur von den Privaten, auch von ARD und ZDF, die sich gleichsam unter Quotendruck fühlen und ihr Programm dementsprechend ausrichten. "Wir haben keine Quotenvorgabe, hatten nie eine und werden nie eine bekommen", sagt Fuhst entschieden. Er weiß dabei auch, dass es für Phoenix genau auf diese Tatsache wie keine zweite ankommt.

Im Schnitt landet der Sender bei rund einem Prozent Marktanteil, was wenig klingt, verglichen zu Nachrichtensendern und Sparteninformationsangeboten, auch aus dem öffentlich-rechtlichen Haus, aber beachtlich ist. Dabei liegt der Altersschnitt bei rund 60 Jahren. Die Jüngeren sollen über die digitale Plattform erreicht werden, was im immer noch nervösen digitalen Zeitalter eine echte Herausforderung ist.

Im Netz folgen die News im Allgemeinen im harten Wettbewerb um die Gunst der User ihren eigenen marktwirtschaftlichen Gesetzen. Am Anfang haben sie Wert, dann zieht die Konkurrenz nach, und die Klicks pro Meldung zum gleichen Thema reduzieren sich. Die Umsätze brechen ein. Um wieder vorne zu sein, werden News in der Folge angereichert. Für tief gehende Recherche bleibt wenig Zeit. Stattdessen beziehen viele Journalisten eigene Positionen, vermitteln Haltung, ergänzen Nachrichten mit Meinung. Durchaus auch, um zu polarisieren, um Klicks und Kommentare zu erzeugen. Ein Phänomen, das es nicht nur im Netz gibt. Fuhst selbst hat es schon erlebt, als er 2008 in den USA arbeitete. "Dort gibt es schon lange reine Meinungssender." Phoenix, so sehen es die Macher, aber auch ARD und ZDF als die Sender im Hintergrund, soll dem entgegenwirken. Was inmitten einer weiterhin ungeordneten Medienwelt einer Mammutaufgabe gleichkommt.

"Bei uns gibt es keine Kommentare oder Meinungen von den Journalisten. Wir bilden ab, aber wir bevormunden nicht. Unsere Aufgabe ist es, zu berichten. Die Meinung zum Geschehen kommt bei uns ausschließlich von externen Experten", sagt Fuhst. Rund 50 an der Zahl sind es, die Woche für Woche im Programm zu sehen sind – in den Talkshows, bei täglichen Hintergrundsendungen oder auch bei aktueller Live-Berichterstattung. Fuhst: "Wenn wir uns selbst zurückhalten und uns auf die wesentliche Aufgabe des Journalisten beschränken, ist das der Schlüssel für den wichtigsten Wert, den uns Zuschauer entgegenbringen können: Vertrauen. Sie ist unsere erste Kategorie." Umfragen zufolge liegen die Vertrauenswerte, was Phoenix betrifft, bei rund 90 Prozent. Mehr als bei den meisten anderen.

Chronistenpflicht

Was dann freilich auch bedeutet: Bei Bundestagsdebatten oder bei großen Pressekonferenzen macht Phoenix keinen Unterschied zwischen den Parteien. AfD, Linke, Grüne, SPD, CDU/CSU, FDP – sie alle finden statt. Gezeigt wird, was geschieht. Der Sender berichtet live aus dem Bundestag, zeigt die Debatten von Anfang bis zum Ende, führt parallel Interviews und nimmt sich auf diese Weise auch die schwierigen oder unpopulären Themen vor. Geht es im Plenum um Integration, schalten schon mal 150.000 Menschen ein, andere Themen erreichen nur um die 50.000.

In diesen Momenten, in denen quotengetriebene Sender die Relevanzdebatte führen würden, verweisen die Verantwortlichen von Phoenix auf ihre Chronistenpflicht. Fuhst: "In einer Welt, in der ein Thema das nächste jagt, gerät manches in Vergessenheit. Und dann wollen wir da sein. Ist die Eurokrise wirklich weg? Oft sind wir der einzige Sender, der auf Themen abseits der Breaking News schaut."

Spröde Themen wie diese werden demnach auch werktäglich immer wieder in den Talkshows wie der "Phoenix Runde" oder "Unter den Linden" behandelt. Vielfach beklagen sich Zuschauer über die "ewig gleichen Gesichter", Phoenix sucht nach anderen, auch um neuen Perspektiven auf die Themen Raum zu geben. Eine durchaus zeitraubende Aufgabe. Wo sind neben den Parteivorsitzenden, Ministern und Generalsekretären jene Politiker, die es wagen, eine womöglich konträre Meinung im Fernsehen zu vertreten? Und das auf eine allgemein verständliche Art und Weise.

Gleiches gilt dabei auch für Wissenschaftler und Journalisten. Mediencharisma ist gesucht. Bei Illner, Will und Plasberg sitzen meist die ewig gleichen Akteure, was viele Zuschauer bemängeln. Doch sind es andere Gäste, wie bei Phoenix oder auch weiteren Nachrichtensendern, schauen weniger hin. Und die großen griffigen Themen wie Brexit oder Klimaschutz entwickeln dabei eben auch eine weit größere Strahlkraft als das Gesundheitswesen oder Steuerfragen.

Was selten bis nie im linearen Fernsehen diskutiert wird, ist die Rolle der Medien in der Mediendemokratie von heute. Wie umgehen mit Politikern, die nicht mehr wie früher den Medien eher notwendigerweise Auskunft geben, sondern die sie schlicht als Multiplikator benutzen? Die in ihnen Politik machen und nicht mehr nur im Bundestag und in den Gremien. Was tun in einer Zeit, in der es mehrheitlich nicht mehr um den Nachrichtenwert geht, sondern um Maximierung des Zuschauerinteresses? Empfinden sich Medien hierzulande als frei, obwohl sie es ob der wirtschaftlichen Interessen ihrer Unternehmen gar nicht mehr sind?

"phoenix runde": Zwischen Hass und Meinungsfreiheit - Wie werden die Medien ihrer Verantwortung gerecht? 

Auch Fragen wie diese, Fragen der so genannten "inneren Pressefreiheit", stellen sich am 3. Mai. Dann findet zum 25. Mal der "Internationale Tag der Pressefreiheit" statt, ein Aktionstag, der von der UNESCO initiiert wurde. Natürlich geht es an diesem Tag vorrangig um die Situation der Presse in aller Welt. Um Willkür und Gewalt im Umgang mit Journalisten, um Zensur, um Unterdrückung und um viele mehr oder minder bekannte persönliche Schicksale von Journalisten.

Bei Phoenix indes soll es bereits am Tag davor, dem 2. Mai ("phoenix runde", 21.45 Uhr), in einer eigenen Gesprächssendung um die Grundsatzfrage nach der Verantwortung von Journalisten auch hierzulande gehen. "Zwischen Hass und Meinungsfreiheit – Wie werden die Medien ihrer Verantwortung gerecht?" ist das Format, das Helge Fuhst moderieren wird, überschrieben. Zu Gast sind unter anderem Stefan Aust, (Herausgeber "WELT"), Anja Reschke (Leiterin Innenpolitik NDR Fernsehen), Professor Norbert Bolz (Medienwissenschaftler, TU Berlin), Teresa Bücker (Chefredakteurin "Edition F"), Golineh Atai (WDR, zuvor ARD-Auslandskorrespondentin Russland, Ukraine, Ägypten) und George Weinberg, ein Unternehmer und Trump-Unterstützer von den Republicans Overseas.

"Natürlich wird es um Russland, die Türkei, aber auch um Europa und die USA gehen. Aber es geht auch um eine selbstkritische Diskussion über unsere Verantwortung", sagt Fuhst. "Wir tun unsere Arbeit nicht für uns selbst, sondern sie ist Teil unserer Gesellschaft, der freien Welt. Dessen müssen wir uns bewusst sein." Der immer wieder vorgebrachten Kritik, solcherlei journalistische Zurückhaltung sei ein Beleg für einen Mangel an Haltung, begegnet er mit seinen Worten: "Haltung ist keine politische Meinung, sondern der Auftrag, Demokratie und Gesellschaft zu stärken. Und das Grundgesetz ist die Grundlage." Es sei an der Zeit für eine gesellschaftliche Debatte, "in der klar wird, dass Pressefreiheit nicht nur dafür da ist, dass Medienhäuser überleben, sondern dass unsere Demokratie überlebt".


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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