Oscarprämiertes Biopic bei ARTE

"Selma": grandiose Annäherung an Martin Luther King

von Andreas Fischer

Das unkonventionelle Biopic – es erzählt nur wenige Monate aus dem Leben von Martin Luther King – ist ein meisterliches Drama über Rassenhass, Hoffnung und einen wohlkalkulierten Protest.

ARTE
Selma
Drama • 28.07.2019 • 20:15 Uhr

"Selma" heißt der Film also. Das erste Biopic über Dr. Martin Luther King Jr. trägt den Namen einer Kleinstadt in Alabama. Dort, im Herzen der Südstaaten-Finsternis, schlug der Bürgerrechtler 1965 eine seiner großen Schlachten. Eine, die dafür sorgte, dass jeder US-Amerikaner ungeachtet der Hautfarbe wählen konnte. Regisseurin Ava DuVernay verweigert sich in "Selma" (2014) konventionellen Biopic-Strickmustern. Sie erzählt nur ein paar Monate aus dem Leben Martin Luther Kings (David Oyelowo). Aber man erfährt so unendlich viel über einen Mann, der sich ängstigte und sorgte, der seine Familie kaum sah, der Entscheidungen treffen musste, die für seine Mitstreiter den Tod bedeuten konnten. "Selma" ist ein Film, der mit leisen Tönen einen Orkan erzeugt. Nun wird der Film bei ARTE gezeigt.

Man kann und muss darüber diskutieren, warum dieses gesellschaftlich relevante, emotional kraftvolle und filmisch herausragend umgesetzte Drama von der Academy mit nur zwei Oscarnominierungen abgespeist wurde. Es ist zwar die Königskategorie dabei, aber es ist schwer daran zu glauben, dass ein Werk als bester Film ausgezeichnet wird, der als zweites Trostpflaster nur noch für den besten Filmsong prämiert werden kann.

Es wäre gerade im Kontext der 2014 herrschenden Rassenunruhen in den USA ein wichtiges Zeichen gewesen, den Film prominenter aufs Tableau zu heben. Zumal sich Hauptdarsteller David Oyelowo zumindest für eine Nominierung allemal qualifizierte: Sein Spiel strotzt vor subtiler Kraft. Im starken Drehbuch von Paul Webb und der offiziell nicht als Autorin geführten Ava DuVernay ist jedes Wort bedeutsam, ohne pathetisch zu wirken. Und dann ist da noch die punktgenaue Regie: Aber eine schwarze Frau als beste Regisseurin? So weit war Hollywood noch nicht.

Ein normaler Mann mit vielen Zweifeln

Dabei gelang DuVernay mit "Selma" eine ziemlich grandiose Annäherung: Sie schaut auf Dr. King durch die Augen verschiedener Protagonisten, zeigt ihn aus vielen Perspektiven. Wie er bewundert und gebraucht wird. Wie er gefürchtet und gehasst wird. Wie er auch im eigenen Lager angefeindet wird. Aber auch, wie dieser Hoffnungsträger von übermenschlicher Größe ein ganz normaler Mann ist, der viele Zweifel hat und von einem Leben in einer Kleinstadt träumt. Die intensivsten Szenen des Films sind nicht die großen Reden, sondern die Gespräche mit seiner Frau Coretta (Carmen Ejogo): eine Frau, die mindestens so stark ist wie ihr Mann, den sie mit der Bürgerrechtsbewegung teilen muss.

"Selma" beginnt mit einem leicht verunsicherten Martin Luther King: Kurz vor der Verleihung des Friedensnobelpreises 1964 räsoniert er vor dem Spiegel über seine Krawatte. Er steckt in dem Dilemma, dass einige Sachen nicht zu seiner Herkunft passen, dass er ständig kämpfen muss, um seine Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Diese Szene in Oslo kündigt die Unmittelbarkeit an, mit der sich "Selma" den historischen Ereignissen widmet.

Um Martin Luther King zu verstehen, muss man auch hinter die Kulissen der Protestbewegung schauen: Er ist mit seinen Leuten nach Selma gekommen, weil dort ein ziemlich brutaler Sheriff das Sagen hat. Mit Bildern von willkürlicher Polizeigewalt lässt sich die öffentliche Meinung beeinflussen, so das Kalkül. Ein Plan, der schließlich aufgeht. Ein Protestmarsch von Selma bis in Alabamas Hauptstadt Montgomery wird erst dadurch möglich, dass örtliche Gesetzeshüter vor den Augen der TV-Nation auf wehrlose und friedliche Protestler eindreschen. Und erst dadurch sieht sich Präsident Johnson (Tom Wilkinson) veranlasst, das Wahlgesetz zu ändern.

In einem komplexen Film stellt Ava DuVernay viele Fragen: Wie viele Opfer sind notwendig, um das Ziel zu erreichen? Wie viel Gewalt nehme ich in Kauf? Wie viel Liebe und Familie setze ich aufs Spiel, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen? Ihre Antworten hat sie zu einem inspirierenden Film über einen großen Mann und eine Zeit des Aufbruchs verdichtet. Aber auch zu einem desillusionierenden Film, der erschreckend deutlich macht, dass die Probleme von 1965 noch lange nicht gelöst sind. Sie haben sich heute einfach nur etwas verkleidet.

2009 hat sich auch Steven Spielberg die Rechte an einem Biopic über Martin Luther King Jr. gesichert. Als "Selma" veröffentlicht wurde, war er sogar so begeistert von Hauptdarsteller David Oyelowo, dass er seine Pläne wieder ins Visier nahm. "Er sagte: 'Meine Güte, David, das ist eines der besten Dinge, die ich je gesehen habe. Du hast mich wirklich inspiriert, mir meinen Dr. King-Film noch einmal anzusehen'", berichtete Oyelowo 2016 der "Daily Express". Die Regie sollte dabei Oliver Stone übernehmen, die Hauptrolle Jamie Foxx. Da das Projekt allerdings nicht so richtig ins Rollen kam, stiegen beide wieder aus.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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