Bildungsexperte Martin Fugmann erklärt, warum ein DigitalPakt 2.0 wichtig ist
Martin Fugmann, Bildungsexperte und Schulleiter, blickt im Interview auf die Entwicklung an deutschen Schulen. Dabei spricht sich der Gütersloher für ein "DigitalPakt 2.0" aus und erklärt, was Deutschland in Sachen digitalen Fortschritt im Bildungssystem von anderen Ländern lernen kann.
Mit der Zeit mitgehen – manchmal ist das leichter gesagt als getan. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung, denn die Technologie entwickelt sich rasant weiter. Um Schulen unter die Arme zu greifen, wurde im März 2019 in Deutschland der DigitalPakt Schule beschlossen. Dadurch soll die Digitalisierung in den allgemeinbildenden Schulen gefördert werden. Doch wie lautet das bisherige Fazit? "Ich glaube, dass sehr viel passiert ist. Dennoch hören wir erschütternde Berichte von vielen Schulleitungen, weil die Digitalisierung an ihren Schulen überhaupt nicht vorangeschritten ist", erklärt Martin Fugmann, der sich seit Jahren für dieses Thema einsetzt – er weiß, wovon er spricht: Seit 2016 leitet er das Evangelisch Stiftische Gymnasium in Gütersloh, eine digitale Vorreiterschule in Deutschland, und seit vier Jahren die Abteilung Bildung und Digitales bei der DAPF in Dortmund. Selbst die Leitung der German International School of Silicon Valley übernahm er. Zudem sitzt er im Vorstand der Heraeus Bildungsstiftung.
Wie ist der aktuelle Stand der Digitalisierung an deutschen Schulen?
Als Bildungsexperte sieht er auch, warum der digitale Fortschritt in Deutschland schleppend vorangeht: "Wir haben in der pädagogischen Diskussion ein Spannungsfeld zwischen Technologie und Pädagogik. Immer, wenn Technologie eingeführt wird, ist das mit Ängsten verbunden." Auch "alle Schulen technologisch auf den gleichen Stand zu bringen" sei ein Problem: "Jetzt kommt eben die Frage nach dem DigitalPakt 2.0", macht er deutlich.
prisma: Sie setzen sich seit Jahren für die Digitalisierung im Bildungssystem ein. Woher nehmen Sie Ihre Motivation?
Martin Fugmann: Mich motiviert die Frage, wie man Bildung für unsere Kinder und Jugendlichen besser gestalten kann. Und der feste Glaube daran, dass wir einiges tun müssen, um den nächsten Schritt nach vorne zu gehen. Denn für mich gehört das Digitale zur Grundkompetenz unserer Schülerinnen und Schüler.
prisma: Hat die Schülerschaft in Deutschland genug Grundkompetenz?
Fugmann: Wenn Sie die Studien sehen, ist es besorgniserregend, auf welchem Kompetenzniveau die Schülerinnen und Schüler 2013 hinsichtlich digitaler Kompetenzen waren – und es ist noch besorgniserregender, dass es in den zurückliegenden Jahren nicht wesentlich besser geworden ist. Wir sind auch sehr alarmiert, weil 2018 zwar 50 Prozent der Schulleitungen Digitalisierung an ihren Schulen als wichtiges Handlungsfeld benannt haben – das bedeutet aber auch, dass ungefähr die Hälfte diesem Thema keine Priorität einräumt. Das hat sich zwar etwas geändert, aber reicht noch nicht.
prisma: Was ist der aktuelle Stand, was die Digitalisierung an unseren Schulen angeht?
Fugmann: Ich glaube, dass sehr viel passiert ist. Dennoch hören wir erschütternde Berichte von vielen Schulleitungen, weil die Digitalisierung an ihren Schulen überhaupt nicht vorangeschritten ist. Oder man hört, dass Schulen mit -Endgeräten ausgestattet sind, aber keine Software genutzt werden darf, weil der Datenschutz Bedenken angemeldet hat. Deshalb brauchen wir unbedingt einen DigitalPakt Schule 2.0 mit veränderten Rahmenbedingungen, um das Ziel der Chancengerechtigkeit nach vorne zu bringen.
prisma: Und nun kommt KI hinzu ...
Fugmann: Stimmt, aber wir haben Schulen, die den Digitalisierungsschritt noch nicht gemacht haben. Wie sollen die denn mit KI umgehen können? Nicht standardisierte Ausstattungen und das Fehlen von Zugängen zu digitalen Bildungsangeboten verschärfen die Chancenungerechtigkeit. Wir könnten uns nicht vorstellen, dass nur jeder zweite Schüler in einer Schule ein Mathematikbuch erhält.
"Corona war ein digitales Strohfeuer"
prisma: Warum geht die Digitalisierung an Schulen nicht schneller voran?
Fugmann: Das hat viele Gründe und liegt oft in den Haltungen begründet. Wir haben in der pädagogischen Diskussion ein Spannungsfeld zwischen Technologie und Pädagogik. Immer, wenn Technologie eingeführt wird, ist das mit Ängsten verbunden, zum Beispiel dass Technik nicht beziehungsstiftend sei und sogar die Lehrkräfte überflüssig mache. Diese Diskussion hat uns im Digitalen lange begleitet. Die Ausstattung der Schulen mit Technologie ist auf viele zuständige Stellen verteilt – dabei gerät manchmal aus dem Blick, dass wir alle gemeinsam die Verantwortung für die bestmögliche Bildung übernehmen müssen.
prisma: Inwiefern?
Fugmann: Die Diskussion wird immer auf der Bund-Länder-Ebene geführt. Der Bund soll keinen Einfluss auf Länderbildungsentscheidungen nehmen. Das ist eine Struktur, die bei DigitalPakt Schule für Probleme gesorgt hat. Jetzt kommt aber die zweite Hürde: Das Geld wird über das jeweilige Bundesland an die Schulträger gezahlt, die für die äußeren Schulangelegenheiten zuständig sind. Über Jahre ging das gut, bis die Digitalisierung kam. Viele Kommunen und Schulträger sind immer noch überfordert damit, in kurzer Zeit alle Schulen technologisch auf den gleichen Stand zu bringen. Das hängt zum Beispiel damit zusammen, dass der Glasfaserausbau hinterherhängt oder die Schulen schauen müssen, dass jeder Schüler gleich ausgestattet ist, im Sinne der Chancengerechtigkeit. Das ist auch nach dem Mittelabruf des Digitalpaktes I noch nicht hinreichend geglückt.
prisma: Die Lehrkräfte müssen auch ausgestattet werden ...
Fugmann: Ganz genau! Die Dienstgeräte mussten beschafft werden, weil viele Lehrerinnen und Lehrer nicht ausgestattet waren. Dann fehlt noch die digitale Infrastruktur in den Schulgebäuden. Durch den DigitalPakt wurde deutlich, dass die Schulen Support benötigen. Man braucht immer jemanden, der zum Beispiel morgens überprüft, warum das Netz ausgefallen ist, oder die Lehrkräfte bei der Anwendung unterstützt.
prisma: Da müsste man doch meinen, dass Corona diesbezüglich ein Quantensprung war.
Fugmann: Corona war ein digitales Strohfeuer. Wenn die Schulen während der Lockdowns gute Digitalkonzepte hatten, dann haben sie oft deshalb funktioniert, weil die Schülerinnen und Schüler nicht in den Schulen waren. Sie waren zu Hause und haben den Eltern im Home-Office die Netze lahmgelegt. Durch diese Zeit haben Lehrkräfte an Digitalkompetenz dazugewonnen und einen neuen Horizont vor sich gesehen. Bezüglich des Systems hat es uns viele Defizite gezeigt, aber noch zu keiner nachhaltigen Entwicklung geführt.
"Wir gestalten Pädagogik und Schule entlang der Grammatik des 19. Jahrhunderts"
prisma: Gibt es Grund zum Optimismus?
Fugmann: Doch, natürlich! Es gibt zum Beispiel Metropolen im Ruhrgebiet, die 85.000 iPads angeschafft, eine eigene Service-Gesellschaft gegründet und systematisch Schulen ausgestattet haben. Ein hessischer Landkreis hat das mit Bravour gemacht, für 100 Schulen. Perfekt ausgestattet und ein ausgezeichnetes Wartungskonzept.
prisma: Warum funktioniert die Digitalisierung an der einen Schulen besser als an der anderen?
Fugmann: Unter anderem liegt das an den Schulleitungen. Für viele ist dieser Weg Neuland, weil sie nie die Möglichkeit hatten, sich in der Digitalität zu bewegen. Das muss aber nicht immer so sein. Hinzu kommen unterschiedlichen Temperamente Geschwindigkeiten und Haltungen, insbesondere, wenn es um Technologie geht. Zudem entwickelt sich die Technologie rasant, weshalb oft und schnell überlegt werden muss, was die Schulen und wo Anpassungen vorgenommen werden müssten, weil zum Beispiel bessere Technologie vorhanden wäre. Dazu brauchen wir agile Prozessstrukturen und -Verfahren, die uns nicht in die Wiege gelegt wurden. Im Grunde des Herzens sind wir eben oft skeptisch zweifelnd und nicht zupackend risikofreudig.
prisma: Eine große Hürde, wenn man an die schnelle Entwicklung der Technologie denkt.
Fugmann: Auf jeden Fall! Wir durchdenken die Dinge gründlich, bevor wir ins Handeln kommen. Das hat uns auch das im Bildungswesen verfolgt und fällt uns in Bezug auf Technologieentwicklung auf die Füße. Die Welt um uns herum hat sich stark verändert. Aber wir gestalten Pädagogik und Schule entlang der Grammatik des 19. Jahrhunderts.
prisma: Hat DigitalPaktSchule etwas gebracht?
Fugmann: Klar, mit Sicherheit. Es gab viele Projekte, die zu einem Entwicklungsschub und gesellschaftlichen Diskurs über Bildung in der digitalen Welt geführt haben. Zudem konnten viele Erkenntnisse gewonnen werden und es ist ja nicht so, dass wir nichts gelernt haben. In diesem Sinne war der DigitalPakt erfolgreich, nur dauert die Entwicklung immer noch zu lange – was aber bei vielen Dingen so ist. Jetzt kommt eben die Frage nach dem DigitalPakt 2.0.
Von diesen Ländern kann Deutschland lernen
prisma: Was passiert, wenn es nicht zu einem DigitalPakt 2.0 kommt?
Fugmann: Wenn er nicht kommt, dann sehe ich die beschriebenen Errungenschaften als gefährdet. Die Kommunen und Schulträger leiden jetzt schon unter der finanziellen Last der Digitalisierung, weil es einen großen Investitionsstau in Schulgebäuden gibt. Hinzu kommt, dass wir einen Lehrkräftemangel in Deutschland haben und uns die notwendigen Antworten fehlen. Allein der Lehrkräftemangel wird uns noch lange begleiten, weswegen wir unser Augenmerk darauf richten sollten, dass an den Schulen gelernt werden kann. Und Lernen geschieht eben nicht ausschließlich in von Lehrkräften gesteuertem Unterricht.
prisma: Haben Sie Verbesserungsvorschläge für DigitalPakt 2.0?
Fugmann: In erster Linie müssen wir unsere Verwaltungsvorschriften ändern. Wir brauchen stark reformierte Antragskriterien, damit die Schulen einfacher an die benötigten Mittel kommen. Das war beim ersten DigitalPakt eine große Herausforderung für die Schulen und die Träger.
prisma: Wie sieht die Digitalisierung an Schulen im Ausland aus? Schneidet Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern schlechter ab?
Fugmann: Die anderen Länder leisten sich nicht den Luxus, innere und äußere Schulangelegenheiten so unabhängig voneinander zu bespielen, wie wir es tun. Sie verteilen die Verantwortung nicht auf so viele zuständige, wenig miteinander vernetzte Institutionen so wie das bei uns der Fall ist. Es gibt andere Governance-Strukturen, wodurch die Schulen autonomer und schneller handeln können. Auch im Schulsystem ist Bürokratie ein riesengroßes Problem. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es zum Beispiel in Dänemark und Finnland weniger Schulen als in Deutschland gibt. Aber sie arbeiten stark regionalbezogen und in schlankeren Einheiten. Davon können wir lernen.
"Sie müssen sich mental darauf einstellen, dass sich die Welt verändert"
prisma: Was können wir jetzt schon für die kommenden Generationen tun?
Fugmann: Wir sollten unsere Pädagogik so gestalten, dass Schülerinnen und Schüler erkennen, dass nach der Schule das Lernen nicht zu Ende ist. Und wir müssen den heutigen Generationen den Umgang mit Technologie und Medienkompetenz näherbringen. Es bedarf der lebenslangen Lernerinnen und Lernern, weil die Lebens- und Berufswelten der Kinder einer beschleunigenden Fluktuation unterworfen sind. Wir sollten die Generationen nach uns darauf vorbereiten. Sie müssen sich mental darauf einstellen, dass sich die Welt verändert. Ich würde mir auch wünschen, dass wir mehr die Potenziale sehen als die Gefahren.
prisma: Aber ist es nicht notwendig, die Gefahren auch im Blick zu haben?
Fugmann: Unbedingt: Wir analysieren unsere Ausgangslagen sehr sorgfältig und sind bisweilen sehr forschungsgläubig. Aber selbst, wenn wir über das nötige Wissen verfügen, kommen wir oft nicht ins Tun und verlieren die Orientierung auf dem Pfad in die Tat. Wir wissen eigentlich, wie es geht, und haben genügend Fakten und Zahlen, um gegenzusteuern. Ich frage mich oft, warum wir nicht ins Handeln kommen. Wir sind oft in Zuständigkeiten und komplexen Prozessen gefangen, die uns davon abhalten, die richtigen Dinge zu tun, auch wenn wir davon überzeugt sind.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH