Nilz Bokelberg über die Zeit als VIVA-Star: "Ich war angstfrei und gleichzeitig sehr sendebewusst"
Mit 17 Jahren bekam Nilz Bokelberg den Job als VIVA-Moderator. Der Schüler war damit von der ersten Stunde des Musiksenders an dabei. Am 1. Dezember 1993 ging der neue Kanal auf Sendung. Im Interview verrät der Nilz Bokelberg, wie er den Job ergatterte und wie seine Zeit bei VIVA verlaufen ist.
Nilz Bokelberg, ein damals 17-jähriger Schüler aus der Nähe von Köln, wurde Ende 1993 zu einem der bekanntesten Deutschen seines Alters. Dies lag am neuen Musik-Fernsehsender VIVA, der am 1. Dezember 1993 – vor genau 30 Jahren – auf Sendung ging. Bokelberg, heute 47, gehörte mit Mola Adebisi, Aleks Bechtel und Heike Makatsch zu den ersten "Gesichtern" des fast schon aus dem Stegreif improvisierten Senders. In der sehr empfehlenswerten dreiteiligen ARD Kultur-Doku "Die VIVA Story – zu geil für diese Welt!" (ARD Mediathek, ab 1. Dezember) treffen sich die Moderatorinnen und Moderatoren von einst wieder – und erinnern sich an eine Zeit, deren besondere Gemengelage erst heute so richtig deutlich wird.
prisma: Sie waren beim Sendestart von VIVA am 1. Dezember 1993 erst 17 Jahre alt. Wie kam man damals zu einem solchen Job?
Nilz Bokelberg: Ich hatte mich als junger Mitarbeiter eines kleinen Stadtmagazins auf die Popkomm geschmuggelt, die Pop-Messe in Köln. Dort war dann auch ein Stand von VIVA, die noch gar nicht auf Sendung waren, aber Moderatoren suchten. Ich war ja "nur" Schüler, das schien mir unerreichbar. Aber mein Chefredakteur meinte: "Bewirb dich doch mal. Die machen so was wie MTV. Das ist genau das Richtige für dich!"
prisma: Und Sie haben ihm vertraut?
Bokelberg: Klar. Ich habe einen Brief hingeschrieben mit einem Foto von mir, das der Schulfotograf aufgenommen hatte. So ein grobes pixeliges Ding, bei dem ein Klassenkamerad von mir auch noch ein Auge mit Edding schwarz ausgemalt hatte (lacht). Trotzdem haben sie mich überraschenderweise zum Casting eingeladen. Später erfuhr ich, dass ich in so einer Art Zweite-Wahl-Topf gelandet bin. Zusammen mit anderen Leuten, die sie neben den Favoriten noch mal angeschaut haben, weil sie dachten, dass wir eventuell interessant sein könnten. Und da haben die mich dann tatsächlich ausgesucht – für ein Casting.
"Ich war angstfrei und gleichzeitig sehr sendebewusst"
prisma: Dort haben Sie dann alle überzeugt?
Bokelberg: Ich fand Fernsehen schon immer super. Damals gab es noch keine Casting-Shows. Hätte es sie gegeben, hätte ich mich bestimmt oft beworben. Ich dachte nie im Traum daran, dass es mit VIVA klappen könnte. Aber ein Casting mitzumachen, war für mich damals bereits das Größte. Und dann ging es doch alles sehr schnell.
prisma: Wissen Sie denn, warum man Sie genommen hat?
Bokelberg: Ich habe nie gefragt, aber ich kann es mir ein bisschen denken. Ich war der nonchalante, jugendliche Typ. So ein bisschen wie Jürgen Vogel in "Kleine Haie", der auf der Schauspielschule genommen wird, weil er so nett den Hocker zurückgebracht hat. Außerdem war ich immer schon eine Laberbacke, und ich empfand keinen Druck im Casting. In Wesseling, der Kleinstadt bei Köln, aus der ich komme, habe ich ohnehin schon immer alles "moderiert". Sogar den Unterricht. Ich war angstfrei und gleichzeitig sehr sendebewusst.
prisma: "Die VIVA Story" bringt die alten Moderatorinnen und Moderatoren zurück an einen Tisch. Viele Ihrer Kollegen haben Sie wahrscheinlich lange nicht gesehen, oder?
Bokelberg: Ja, manche habe ich tatsächlich ewig nicht gesehen: Mola Adebisi zum Beispiel. Aleks Bechtel war vor einem Jahr mal bei mir im Podcast. Es war so lustig, als wir drei VIVA-Gesichter der ersten Stunde zusammensaßen, das muss ich schon sagen. Eigentlich bin ich nicht besonders nostalgisch. Ich vermeide sogar Jubiläumsfeiern – das "20-Jährige" und "25-Jährige" von VIVA ließ ich aus. Zum 30-Jahre-Jubiläum habe ich meine Meinung geändert. Da hatte ich dann plötzlich Lust drauf.
"Wir waren ein bisschen dilettantisch, machten Fehler – aber das machte nichts"
prisma: Meistens kommt man ja erst später im Leben drauf, welche Zeiten besonders waren ...
Bokelberg: Ja. Ich glaube, je größer der Abstand zu 1993 und meinen Anfangstagen bei VIVA ist, desto mehr wird mir bewusst, wie neu und besonders das war, was wir damals gemacht haben. So nah dran war es damals natürlich cool, aber nichts Besonderes. Ich bin nicht jeden Tag ins Studio gegangen und dachte: "Oh, ich schreibe Geschichte". Neulich war ich bei einer Lesung des Buches von Markus Kavka und Elmar Giglinger über das deutsche Musikfernsehen. Da wurde mir klar, dass es den Leuten damals viel bedeutet hat. Für uns war es in den 90-ern ein Blindflug durchs Leben. Erst jetzt kapiere ich, wie wichtig es den Menschen damals war.
prisma: Warum hat das Musikfernsehen damals den Leuten so viel bedeutet?
Bokelberg: Ich glaube, die Gründe sind relativ simpel. Sprache war der wichtigste Faktor bei VIVA. Wir haben Deutsch geredet, waren also viel besser zu verstehen als die coolen Kollegen bei MTV. Wir Moderatoren waren fast genauso wie die, die am andere Ende der Leitung zugeschaut haben. Wir waren sehr nahbar.
prisma: War Fernsehen nie wieder so dicht dran an der Jugendkultur, wie damals VIVA?
Bokelberg: Vielleicht. Wir waren ein bisschen dilettantisch, machten Fehler – aber das machte nichts. Es gab eine Sendelizenz, und die musste in Windeseile umgesetzt werden. Da war eine Menge Programm zu füllen, und man hatte keine Leute dafür. Vor allem nicht die richtige Art Leute. Also holte man junge Menschen von der Straße. Der Rest wurde einem selbst überlassen. Natürlich ist alles nach und nach professioneller und formatierter geworden. Dann kamen die Business-Leute und machten Vorgaben. Aber das ist erst nach zwei, drei Jahren passiert. Die Anfangszeit war Ausprobieren und Learning-by-Doing.
"Diebische Freude daran, einen 17-Jährigen hochphilosophische Dinge sagen zu lassen"
prisma: Das Improvisierte machte einen großen Teil des Charmes aus, oder?
Bokelberg: Ich bin mir nicht sicher, ob es so etwas im deutschen Fernsehen außer bei uns noch ein zweites Mal gab. Wir hatten Leute bei uns im Team, die machten zum ersten Mal Fernsehen. Die haben sich das dann in zwei Wochen drauf geschafft, wie es überhaupt grundsätzlich funktioniert: Geschichten erzählen, Beiträge schneiden und so weiter. Wir haben auch am Anfang fast alles angenommen, was uns an Musik- und Popgeschichten angeboten wurde.
prisma: In der ARD Kultur-Doku sieht man Höhepunkte von erstaunlich frechem Fernsehen. Zum Beispiel das Rödelheim Hartreim Projekt bei Stefan Raab oder die unfassbar beleidigenden Moderationen von Niels Ruf. Machte jeder bei VIVA, was er wollte, oder wurden dort auch Images geformt?
Bokelberg: Dass Stefan ein Ausnahmetalent und Niels extrem drüber agierte, war damals schon klar. Aber wie die Moderatoren vor der Kamera drauf waren, das kam schon von ihnen selbst. Wir hatten auch gute Autoren. Die arbeiteten ansonsten für die Zeitschrift Spex und andere schlaue Blätter. Die achteten darauf, dass sie uns Texte schreiben, die sehr nah an uns dran waren. Aber der Teleprompter betraf ja nur die Ansagen von Musik-Clips. In Interviews oder Gesprächen sagten wir eh, was wir wollten. Ich war ein großer Autoren-Darling, erinnere ich mich, weil ich die Texte so rüberbrachte, als kämen sie von mir selbst. Die Autoren hatten eine diebische Freude daran, einen 17-Jährigen hochphilosophische Dinge sagen zu lassen, so als kämen die aus seinem Hirn (lacht).
prisma: Durfte man als Moderator alles sagen, was man wollte?
Bokelberg: Ja und nein. Es gab schon bisweilen Ärger. Ich erinnere mich daran, dass ich mal in einer Sendung sagte, Genesis seien scheiße. Danach bin ich ins Büro von unserem Chef Dieter Gorny zitiert worden, wo er mir erklärt hat, dass wir niemanden "scheiße" nennen, der bei uns auf dem Sender läuft. Eigentlich logisch, sollte man denken (lacht). Manchmal hat man einen auf den Deckel bekommen, aber meistens konnte man machen, was man wollte. Die Chefs wussten ja, dass es unser Pfund war, mit dem wir wuchern konnten. Dass wir so reden durften, wie uns der Schnabel gewachsen war.
"Ich steckte mit 20 oder 21 Jahren in meiner ersten Alterskrise"
prisma: Es ist das Privileg der Jugend, dass man denkt, die coolen Sachen, die man macht, würden ewig so weitergehen. Dachten Sie das damals auch?
Bokelberg: Na klar. Ich habe neulich ein altes Interview von mir gefunden aus einer Zeitschrift, die es schon lange nicht mehr gibt. Dort habe ich gesagt: VIVA wird definitiv auch meine Beerdigung übertragen. Und das dachte ich damals wirklich, dass dies jetzt ein Leben lang mein Beruf ist. Videoclips ansagen und bei VIVA arbeiten (lacht).
prisma: Sie haben dann aber nach vier Jahren, noch während der 90-er, bei VIVA aufgehört. Warum?
Bokelberg: Ich hatte das Gefühl, es geht nicht mehr weiter. Es bewegt sich nichts mehr bei mir. So steckte ich mit 20 oder 21 Jahren in meiner ersten Alterskrise. Ich machte dann einen kurzen Break und habe danach beim DSF eine Funsport-Sendung moderiert. Auch dort war ich etwa vier Jahre.
prisma: Ist es Ihnen damals schwergefallen, VIVA zu verlassen?
Bokelberg: Nein, gar nicht. Wir sind kurz davor umgezogen in den Kölner Mediapark, und es gab einen neuen Programmdirektor, mit dem ich nicht so gut klarkam. Ich merkte, dass VIVA für mich zu einer Sackgasse wurde. Damals gab es dann VIVA Zwei, der coolere Sender. Was bedeutete, dass VIVA noch konservativer wurde – was die Musikauswahl betraf. Darauf hatte ich dann keine Lust mehr.
prisma: Viele andere Moderatoren von damals machten danach große TV-Karrieren. Haben Sie den Schritt nie bereut, so früh gegangen zu sein?
Bokelberg: Nein. Vielleicht habe ich es bereut, damals ein bisschen zu jung gewesen zu sein. Mit mehr Lebenserfahrung hätte ich vielleicht nachhaltiger gedacht. Damals war ich immer sehr im hier und jetzt. Nun, mit Ende 40, denke ich über solche Dinge nach (lacht).
"Ich hatte sogar Jahre, da lief es in der Tat richtig schlecht"
prisma: Sind Sie neidisch auf Kollegen, die größere Karrieren gemacht haben – so wie Klaas Heufer-Umlauf, Stefan Raab oder Heike Makatsch?
Bokelberg: Den Gedanken verstehe ich, aber er ist nicht meiner. Ich hatte eine fantastische Zeit, und ich würde lügen, wenn ich sage, dass es danach nur bergauf ging. Ich hatte sogar Jahre, da lief es in der Tat richtig schlecht. Aber die sind auch vorbei, und ich bin froh über alles, was ich erlebt habe. Natürlich würde ich auch gern eine große Samstag- oder Dienstagabend-Show moderieren. Auch weil ich glaube, dass ich das könnte. Aber wer weiß, ich habe noch nicht alle Hoffnungen diesbezüglich aufgegeben.
prisma: Von was leben Sie heute?
Bokelberg: Ich bin im Podcast-Geschäft, schreibe Drehbücher und moderiere. Es ist eine Mischkalkulation, aber der Moderation gehört immer noch mein Herz.
prisma: Vermissen Sie eigentlich den Musikjournalismus? Es scheint ja so, als würde die Generation junger Hörerinnen und Hörer niemanden mehr brauchen, der ihr Musik erklärt oder für sie darüber nachdenkt ...
Bokelberg: Ich kann das Vermissen dieser Art von Pop- und Musikkultur verstehen. Es ging mir auch mal eine Zeit lang so. Mittlerweile bin ich drüber weg. Musikjournalismus funktioniert heute anders. Es ist nicht mehr das gedruckte Wort, und es gibt diese Gatekeeper-Funktion des Journalisten nicht mehr. Aber auf TikTok oder Instagram passiert ganz viel Musikjournalismus. Da entdecke ich immer noch neue Bands oder Künstler. Es ist anders heute, aber nicht weg. Musik wird die Leute immer faszinieren – und ganz besonders natürlich junge Menschen.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH