Meret Beckers vorletzter "Tatort" mit Mark Waschke ist einer der besten. In "Die Kalten und die Toten" geht es um dysfunktionale Liebe zwischen Eltern und Kindern.
Eigentlich schade, dass Meret Becker ausgerechnet jetzt beim "Tatort" aufhört, wo sich das Berliner Ermittlungs-Paar in der zweiten Schaffenshälfte seiner insgesamt sechs gemeinsamen Jahre doch zu einem ziemlich hohen Qualitätsstandard hinaufgearbeitet hat. Was 2015 mit halbherzig horizontal erzählten Fällen begann, überladen und mit ziemlich manierierten Figuren, inklusive den Ermittelnden, hat in letzter Zeit fast schon einige moderne "Tatort"-Klassiker hervorgebracht: den Grimmepreis-gekrönten Film-im-Film "Meta" beispielsweise oder "Tiere der Großstadt" (beide 2018), einen der elegantesten Beträge zum deutschen Sonntags-Krimi der letzten Jahre. Und nun? Nach "Die dritte Haut", dem Juni-Fall über den pervertierten metropolen Wohnungsmarkt, folgt nun ein weiterer richtig starker Fall über seltsame Formen der Liebe zwischen Eltern und Kindern.
"Die Kalten und die Toten" beginnt mit einer Partynacht. Medizinstudentin Sophia wird über eine Dating-App in die Wohnung des Paares Dennis Ziegler (Vito Sack) und Julia Hoff (Milena Kaltenbach) geladen. Die Mittzwanziger haben einvernehmlichen Sex zu dritt. Am nächsten Morgen wird in der Nähe von Dennis' Wohnung eine weibliche Leiche gefunden. Ihr Gesicht ist entstellt, sodass die Identifikation länger dauert – aber es ist Sophia. Als Nina Rubin (Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) den Eltern der Toten (Andreja Schneider, Rainer Reiners) die traurige Nachricht überbringen, leugnen diese, dass es sich beim Opfer trotz des DNA-Beweises um ihre Tochter handelt – weil diese doch keine Dating-Portale benutzen würde!
Einer ähnlich verqueren Eltern-Logik gehorcht das Verhalten der uniformierten Polizistin Doris Ziegler (Jule Böwe), der Mutter von Dreier-Organisator Dennis. Obwohl Doris und ihr Mann, Sicherheitsfachmann Claus Ziegler (Andreas Döhler), scheinbar auf der Seite des Gesetzes arbeiten, scheuen sie keinerlei Falschaussagen oder "Tatortreinigungen", um den offenbar chronisch delinquenten Filius und seine kaltherzigen Taten zu vertuschen. Karow und Rubin haben ziemlich schnell ein deutliches Gefühl dafür, dass Dennis mit dem Tod Sophias mehr zu tun haben könnte, als er sagt. Doch es fehlen die Beweise.
Schließlich beginnen die Ermittelnden mit einer Art "psychologischen Kriegsführung": Sie besuchen den Tauchclub der moralisch abdriftenden Helikopter-Eltern, wo sie Zweifel und Unfrieden in deren Freundeskreis sähen. Und sie versuchen, die Geheimnisse der Eheleute gegeneinander auszuspielen. Auch bei den die bittere Wahrheit leugnenden Opfereltern sowie dem tatverdächtigen Paar helfen keine konventionellen Methoden. Im Berliner Winter muss mit ungewöhnlichen Tricks gearbeitet werden, damit die Wahrheit zutage tritt.
"Die Kalten und die Toten" ist anfangs nichts für Menschen, die beim Fernsehschauen eine Allergie gegen collagenhafte Erzählformen haben. Die Figuren werden wenig "didaktisch" eingeführt, man steigt ohne Vorwarnung mitten in ihr Leben ein. Ihre Charaktere und die Verbindungen zueinander erschließen sich erst nach und nach.
Verantwortlich für die mutige Architektur des Films ist Drehbuchautor Markus Busch, der öfter für Dominik Graf geschrieben hat ("Am Abend aller Tage", "Die Freunde der Freunde"). Buschs Drehbücher weisen stets einen eigenwilligen, aber durchaus faszinierenden Erzählstil auf. Auch für "Tatort" und "Polizeiruf" war der 1965 geborene Autor schon aktiv. Und das für ziemlich wuchtige Folgen: der hochgelobte Hübner-Sarnau-Krimi "Söhne Rostocks" oder Mišel Matičevićs Gewaltrip "Borowski und das Fest des Nordens" stammen aus seiner Feder.
Nicht unerwähnt bleiben darf Jule Böwe, die Dennis' Polizisten-Mutter auf emotionalen Abwegen spielt. Im Fernsehjahr 2021 kann man sich kaum an eine bessere schauspielerische Leistung unter den Episoden-Hauptdarstellerinnen der deutschen Krimi-Produktion erinnern. Dass Mutter sein wehtun kann, auch bei erwachsenen Kindern, hat man selten drastischer vor Augen geführt bekommen.
Tatort: Die Kalten und die Toten – So. 14.11. – ARD: 20.15 Uhr
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH