"The Other Side of the Wind"

Orson Welles' letzter Film als Premiere bei Netflix

von Sven Hauberg

Nach mehr als 40 Jahren kommt Orson Welles' letzter Film "The Other Side of the Wind" zwar nicht ins Kino – aber immerhin zu Netflix. Die Entstehungsgeschichte des Werks ist ein Drama für sich.

Zuletzt musste Netflix ordentlich Prügel einstecken. Der Streamingdienst mache Fernsehfilme und solle deswegen auch nicht bei den Oscars berücksichtigt werden, wetterte etwa Regisseur Steven Spielberg. Und in Cannes entschied man sich, die Filme des Unternehmens nicht mehr im Wettbewerb zuzulassen. Schließlich auch noch diese Hiobsbotschaft für Kinoliebhaber: "The Ballad of Buster Scruggs", den neuen Western der Coen-Brüder, wird es nicht auf der großen Leinwand zu sehen geben, sondern nur im Netflix-Heimkino. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Netflix nun etwas geschafft hat, was Orson Welles, der Großmeister des Kinos, zu Lebzeiten nicht mehr erleben durfte: "The Other Side of the Wind", der letzte Film der Regielegende ("Citizen Kane"), wurde von Netflix nach mehr als vier Jahrzehnten fertiggestellt. Nach der Premiere in Venedig steht der Film nun ab 2. November zum Abruf bereit.

"The Other Side of the Wind" ist einer jener Filme, die schon allein durch ihr Scheitern zum Mythos geworden sind. Schon Anfang der 60er, nach dem Selbstmord seines langjährigen Freundes Ernest Hemingway, wollte Welles einen Film über eine Figur drehen, die an den legendären Schriftsteller angelehnt war. Im Laufe der Jahre wurde der Autor zu einem Filmregisseur, doch als ihn John Huston dann 1973 spielte, steckte noch immer viel von dem bärbeißigen Nobelpreisträger in dieser Figur, die nun Jake Hannaford hieß.

Als Welles Anfang der 70er mit den Dreharbeiten begann, war er in Hollywood schon lange nicht mehr gut gelitten; zu teuer waren seine Filme, zu gering ihr kommerzieller Erfolg. In Europa hingegen hofierte man den Mann, der einst mit seinem Hörspiel über den "Krieg der Welten" die Radiohörer in Angst und Schrecken versetzt hatte.

Finanziert wurde "The Other Side of the Wind", dieser Film über einen Hollywood-Regisseur, nicht nur mit amerikanischem Geld. Auch der Schwiegersohn des Schahs von Persien machte den Geldbeutel locker. Als dann aber die islamische Revolution über den Iran hinwegfegte – der Film war 1979 abgedreht und zu einem Teil bereits geschnitten -, begann ein Rechtsstreit, dessen Ende Welles nicht mehr erlebte. Er verstarb 1985, ohne seinen Film vollendet zu haben.

In den Jahren darauf scheiterten unzählige Versuche, den Film fertigzustellen; die begleitende Netfix-Dokumentation "They'll Love Me When I'm Dead" erzählt hier nur einen Teil des Wahnsinns. Um es kurz zu machen: Während die Originalnegative sicher in einem Tresor in Paris lagerten, schaffte es Netflix, sich die Rechte an dem Film zu sichern; Cutter Bob Murawski ("Tödliches Kommando - The Hurt Locker") vollendet den Schnitt.

"The Other Side of the Wind" ist ein wildes Sammelsurium an Szenen und Ideen geworden, gedreht mal in Schwarz-Weiß, mal in grellen Farben, mal im Breitbild- und mal im Fernsehformat. Es ist ein rauschhafter Film über einen – wieder so eine Ironie – Regisseur und dessen letztes, unvollendetes Werk.

Jener von Regielegende John Huston ("Die Spur des Falken", "African Queen") gespielte Jake Hannaford, ein Bär von einem Mann, lädt zur Feier seines 70. Geburtstags. Hannaford sei der "Ernest Hemingway des Kinos", sagt einer aus der riesigen Entourage des Künstlers einmal. Höhepunkt von Hannafords Party auf der Ranch einer Freundin (gespielt von Lilli Palmer) in den Hollywood Hills ist eine Privatvorstellung seines neuesten Werks, den Welles als Film in den Film montiert. Oja Kodar und Bob Random spielen hier ein Liebespaar, das von Regisseur Hannaford zu immer mehr Perversitäten vor der Kamera getrieben wird, bis der junge, androgyne Mann das Set verlässt und Hannafords Film unvollendet zurückbleibt. Um doch noch weiterdrehen zu können, braucht der Regisseur Geld und umwirbt mögliche Finanziers – eine Pflicht, die ihn abstößt. Am Ende wird auch er scheitern, so wie Orson Welles.

Was Welles selbst wohl dazu sagen würde, dass "The Other Side of the Wind" nun nicht im Kino, sondern im Fernsehen läuft? Oder gar auf Tablets und Smartphones gestreamt wird? Man will es sich nicht ausmalen. Vielleicht aber wäre er auch einfach nur dankbar. Denn anders als "Don Quixote", dieses andere, unvollendet Welles-Werk, das posthum doch noch fertiggestellt wurde und bei dem man nur erahnen kann, was es hätte werden können, kommt "The Other Side of the Wind" der Vision ihres Machers, das zumindest mag man vermuten, doch sehr nahe.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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