Juan Romero (Elyas M'Barek, links) und Milo (Michael Ostrowski) treffen in den USA eine wichtige Quelle.
Juan Romero (Elyas M'Barek) lassen seine Zweifel keine Ruhe. Er ist das filmische Pendant zu Juan Moreno und eine der beiden Hauptfiguren in Michael "Bully" Herbigs neuem Film "Tausend Zeilen", der den Fall Relotius satirisch aufarbeitet.

Tausend Zeilen

KINOSTART: 29.09.2022 • Drama, Komödie • Deutschland (2022) • 93 MINUTEN
Lesermeinung
prisma-Redaktion
Originaltitel
Tausend Zeilen
Produktionsdatum
2022
Produktionsland
Deutschland
Laufzeit
93 Minuten

Filmkritik

Wahrheit und Fiktion
Von Christopher Diekhaus

2018 schlug der Fall des betrügerischen Journalisten Claas Relotius hohe Wellen. Michael "Bully" Herbig legt nun einen Film über den Skandal vor und nähert sich diesem vor allem mit satirischen Mitteln. Erkenntnisreiche, bissig-scharfe Unterhaltung kommt dabei aber nicht heraus.

"Dieser Film ist eine Fiktion. Vieles ist aber genauso passiert. Das Meiste haben wir uns allerdings ausgedacht. Ganz ehrlich!" Schon mit diesen Sätzen, die Michael "Bully" Herbig seiner neuen Regiearbeit "Tausend Zeilen" voranstellt, ist klar, in welche Richtung es gehen soll. Der Fall des preisgekrönten "Spiegel"-Reporters Claas Relotius, der zahlreiche Artikel und Interviews erfand und 2018 über seine Betrügereien stolperte, wird – "Schtonk!" lässt grüßen – mit satirischen Mitteln angepackt. Wohl nicht die schlechteste Idee, trieb die Geschichte doch teilweise unglaublich absurde Blüten.

Als Inspirationsquelle diente Herbig und Drehbuchautor Hermann Florin das Buch "Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus", in dem Juan Moreno die manipulativen Machenschaften seines vormals gefeierten Kollegen nachzeichnet. Der Film nennt den Enthüllungsjournalisten Juan Romero (Elyas M'Barek) und lässt ihn von Anfang an das Geschehen sarkastisch kommentieren. Sein Gegenüber heißt Lars Bogenius (Jonas Nay), den der Regisseur gleich bei seinem ersten Auftritt betont ironisch als von gleißendem Licht umhüllten Heilsbringer inszeniert. Die führenden Köpfe im Hause des fiktiven Nachrichtenmagazins "Die Chronik" liegen diesem Mann zu Füßen, wie eine Begegnung mit Ressortleiter Rainer Habicht (Michael Maertens) und dem stellvertretenden Chefredakteur Christian Eichner (Jörg Hartmann) unterstreicht.

Der Stein, der Bogenius' Absturz ins Rollen bringt, ist ein Bericht über die Flüchtlingssituation an der Grenze der Vereinigten Staaten und Mexikos. Während der Starjournalist die US-Seite beackert, nimmt sich Romero das Nachbarland vor. Entstehen soll am Ende eine gemeinsam verfasste Story. Bereits in der Frühphase der Textarbeit stolpert Romero in den Beschreibungen seines Kollegen über Unstimmigkeiten und zweifelt zunehmend Bogenius' Besuch bei einer berüchtigten Bürgerwehr an. In der Chefetage stoßen seine Hinweise allerdings auf taube Ohren. Da niemand genauer hinschauen will, recherchiert der freie Mitarbeiter auf eigene Kosten.

Der Fall Relotius handelt nicht nur von einem dreisten Blender, sondern auch von einem eklatanten Systemversagen. Nach der Aufdeckung stand nämlich vor allem eine große Frage im Raum: Wie, um alles in der Welt, konnte ein derartiges Lügenkonstrukt unentdeckt bleiben? Gerade im "Spiegel", der sich seiner umfangreichen Faktencheck-Abteilung, der sogenannten Dokumentation, doch stets gerühmt hatte? Reichlich Stoff also für einen messerscharfen Blick hinter die Kulissen der Medienbranche, den "Tausend Zeilen" aber leider schuldig bleibt.

Herbigs freie Rekonstruktion des Skandals liefert größtenteils ernüchternd oberflächliche Antworten und zeichnet einfache Charakterbilder. Während Bogenius als glatter, gestriegelter, sich demütig gebender Schreiber daherkommt, tritt Romero als leicht zotteliger, etwas verplanter, liebenswerter, zwischen Familie und Beruf pendelnder Wahrheitssucher auf. Allein optisch sind die beiden klar markiert. Der Ressortleiter "Reportagen" und der stellvertretende Chefredakteur, zwei karikaturhafte Gestalten, haben einzig Ruhm, Ehre und Auflage im Visier und spornen ihre Angestellten regelrecht an, mit der Wahrheit flexibel umzugehen. "Wir gießen Wirklichkeit in Geschichten", "Fakten kann jeder" und "Weniger Uli Wickert, mehr Quentin Tarantino!" sind die Aus- und Ansagen, die durch die Sitzungssäle schallen. Die blinde Gier nach spektakulären, aufwühlenden Erzählungen setzt alles andere außer Kraft. Um die Dokumentationsabteilung zufriedenzustellen, reicht es laut Film schon aus, die Faktenprüfer mit ihrem bevorzugten Naschwerk zu versorgen.

Satire mit dem Holzhammer

Zweifellos gibt sich Herbig redlich Mühe, die um falsche Texte, eher unfilmische Elemente, kreisende Betrugsaffäre mit dynamischen Stil- und Inszenierungsmitteln aufzupeppen. Ein ums andere Mal friert das Bild ein, und Romero schreitet, sich direkt an den Betrachter wendend und erklärend, durch die Szenerie. Bogenius' erfundene Erlebnisse werden visuell ausgeschmückt. Auch der Trickser darf die vierte Wand durchbrechen. Und gerade im letzten Drittel spielt der Film lustvoll mit der Frage, wie man Geschichten möglichst wirkungsvoll erzählt.

All das erinnert an Adam McKays Börsensatire "The Big Short" und sein Dick-Cheney-Biopic "Vice – Der zweite Mann", die komplexe Sachverhalte und Ereignisse ungemein gewitzt aufbereiten. "Tausend Zeilen" indes benutzt zu oft den Holzhammer und vertraut auf seichte Humoreinlagen, um auch nur annähernd mithalten zu können. Die Neigung des Films, seine Ideen arg explizit auszuformulieren, wird schmerzhaft deutlich, als Romero begreift, dass er nach der Veröffentlichung der Flüchtlingsreportage wie ein Mittäter erscheint. Damit auch jeder kapiert, was gemeint ist, gibt es einen kurzen Einschub, der Bogenius als Bankräuber und Romero als Fluchtwagenfahrer zeigt.

Negativ ins Auge stechen außerdem zwei weitere Dinge: Als emotionaler Anker der Geschichte soll Romeros familiäre Situation, seine Entfremdung von Frau (Marie Burchard) und Kindern durch die exzessiven Recherchen dienen. Unter dem Strich wirkt diese Ebene jedoch aufgepfropft und formelhaft. Lange Zeit ist die Mediensatire damit beschäftigt, das Milieu des "Chronik"-Magazins als aufgeblasen und selbstverliebt zu skizzieren. Kurz vor Schluss singt "Tausend Zeilen" dann aber noch einmal ein Loblied auf die Kraft des Journalismus und hält den an einer sensationellen Berichterstattung nicht ganz unschuldigen Zuschauern/Lesern den Spiegel vor. Irgendwie ist es bezeichnend, dass diese spannenden Aspekte einfach hastig nachgeschoben werden. Gerade in Zeiten grassierender Fake News hätte es einen stärkeren Film über das Thema "Wahrheit und Fiktion" gebraucht.

Tausend Zeilen, im Kino ab: 29.09.2022

Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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