"Roma"

Ein Netflix-Film als Oscar-Kandidat

Erstmals lässt Netflix mit Alfonso Cuaróns "Roma" eine Eigenproduktion zuerst im Kino laufen. Grund: die völlig zu Recht hoch eingeschätzten Oscar-Chancen des Meisterwerks.

Überaus selten kommt es vor, dass ein Kinostart vom aktuellen Stand kulturindustrieller Debatten kündet. Wenn "Roma", das Drama des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón, ab Donnerstag, 6. Dezember, in den hiesigen Kinos anläuft, spiegelt das eine medienhistorisch tiefgreifende Auseinandersetzung um das Verhältnis von traditionellem Film und aufstrebenden Streamingmedien. Dass das US-Unternehmen Netflix seine Eigenproduktion noch vor dem Streaming-Start am Freitag, 14.12., auf der Leinwand zeigen lässt, soll vor allem der Oscar-Academy imponieren. Die hat das Meisterwerk, in dem der "Gravity"-Regisseur teils autobiographisch von Hausangestellten im politisch aufgewühlten Mexiko der 70er-Jahre erzählt, aber wohl ohnehin schon auf dem Schirm.

Einmal mehr darf sich Netflix als richtiger Ort nicht nur für imposante Serienstoffe, sondern auch für außergewöhnliche Filmepen inszenieren – diesmal sogar, ohne Kinopuristen und Kulturverteidiger vor den Kopf zu stoßen. Plötzlich will der Streamingdienst ausgewählte eigenproduzierte Werke auch im Kino zeigen – und reagiert damit auf die harsche Kritik an seiner Veröffentlichungspolitik.

Uneigennützig ist Netflix' Zugeständnis natürlich nicht: Der Strategiewechsel betrifft vor allem vielversprechende Produktionen, die bei den großen Filmfestivals und Awardverleihungen als preisverdächtig gelten. Dazu soll neben "Roma" auch "The Irishman" von Martin Scorsese sowie Susanne Biers "Bird Box" mit Sandra Bullock und John Malkovich gehören. Man will die eingeübten Mechanismen einer Branche bedienen, die sich durch den ökonomischen und künstlerischen Aufstieg des Unternehmens gekränkt fühlt.

Selbst Kinolegenden wie Steven Spielberg hatten in das allgemeine Lamento eingestimmt: Netflix mache nun einmal Fernsehfilme – und solle deshalb bei den Oscars nicht berücksichtigt werden. Ein Affront, den Unternehmensgründer Reed Hastings, der in den vergangenen Jahren die Filmindustrie gehörig durcheinanderwirbelte und nicht wenige Starschauspieler und -regisseure von der Zusammenarbeit überzeugte, nicht auf sich sitzen lassen konnte. Die Oscars scheinen in Sachen Spielfilm die letzte Bastion, die Netflix noch einnehmen muss. Mit der Dokumentation "Ikarus" wurde bislang nur eine Eigenproduktion von der Academy beachtet, hoch gehandelte Werke wie "Beasts of No Nation" oder "Mudbound" wurden hingegen ignoriert.

Bei Filmfestivals wie jenem in Cannes sah sich Netflix gezwungen, seine Eigenproduktionen zurückzuziehen. Bereits zuvor hatten Hunderte Kinos zeitgleich als Stream und auf Leinwand startende Filme wie "Crouching Tiger, Hidden Dragon" boykottiert. Danach sah es auch bei "Roma" zunächst aus: 300 deutsche Kinobetreiber schlossen sich einem Boykott-Aufruf an. Netflix zerstöre "die Grundpfeiler eines Systems, das seinen Erfolg über Jahrzehnte bewiesen hat". Erst ins Kino, 90 Tage später im Wohnzimmer – auf diesem Deal basierte das Geschäftsmodell der Kinos und die Politik der Festivals. Es ist kein Zufall, dass "Roma" nun der erste Netflix-Film ist, mit dem der Streamingdienst dem alten System entgegenkommt – wenn auch nur mit einem Vorlauf von zwei Wochen, und wenn auch nur in jenen Kinos, die den Boykott nicht mittragen.

Goldener Löwe für "Roma"

Doch schließlich räumte "Roma" erst im August den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig ab, wurde von der Kritik trotz aller Netflixerei hochgelobt und gilt als erster wirklich aussichtsreicher Kandidat des Streaminganbieters für einen Oscar als Bester Film. Und Netflix muss nachziehen: Bereits 2017 erhielt mit "Manchester By The Sea" ein Drama zwei Academy Awards, an dem sich Konkurrent Amazon die Rechte gesichert hatte. Es ist fast ein wenig wie einst das Rennen ums Weltall zwischen den USA und der Sowjetunion: Den größten aller Preise, die ein Film auf dieser Welt gewinnen kann, möchte sich 2019 nun Netflix sichern.

Verdient hätte "Roma" den Oscar in künstlerischer Hinsicht zweifellos. Cuarón, der bereits mit "Gravity" zwei Academy Awards einheimste, erschafft mit seinem autobiographisch inspirierten Schwarz-Weiß-Drama um eine Familie und deren Hausangestellte im aufgewühlten Mexiko der 70er-Jahre ein ebenso charakterstarkes wie politisches Meisterwerk. In unbeschreiblich intensiver Bildsprache, vor bedrückend detaillierter Szenerie und mit zugleich unbekannten wie starken Darstellern, erschuf der 1961 in Mexiko-City geborene Filmemacher sein bislang herausragendstes Werk – und den bisher besten Netflix-Film überhaupt. Gelungen ist ihm ein relevantes, emotionales, realistisches Drama, das die Academy in Hollywood gleichsam auf dem Silbertablett serviert bekommt.

Im Mittelpunkt steht Cleo (Yalitza Aparicio), die Hausangestellte einer wohlhabenden Familie der Oberschicht. Die junge Mixtekin, deren Leben sich wie selbstverständlich nur um die Sorge- und Hausarbeit dreht, kocht und putzt und kümmert sich um die vier Kinder, deren Mutter Sofía Antonio (Marina de Tavira) kaum damit klar kommt, dass ihr Mann (Fernando Grediaga), ein Arzt, die Familie für eine Andere verlässt. Abwechslung findet die familienlose Cleo lediglich im privaten Rumalbern mit ihrer Kollegin und Freundin oder bei Kinobesuchen mit jungen Männern.

Die Ambivalenz seiner Geschichte spielt Cuarón, dessen Vater ebenfalls Arzt war, eindrücklich aus: Cleo wird nicht unterdrückt, sondern als Mitglied der Familie wahrgenommen und von den Kindern geliebt. Selbstverständlich ist die Hausangestellte immer dabei, fast ohne eigenes Leben, aber als emotionaler Anker, dessen Dienste wie das Mobiliar dazugehören. Es sind die kleinen Szenen, die dieses absurde Verhältnis der weißen Familie, die ihre reproduktiven Aufgaben auf die arme Frau der indigenen Unterschicht überträgt, klarer werden lassen. Als Cleo von einem jungen Mann schwanger und verlassen wird, solidarisiert sich ihre Chefin mit ihr als von Männern betrogene Frau: "Egal, was sie sagen, wir sind immer alleine."

Der schmutzige Krieg in Mexiko

Beeindruckend geskriptet und überaus langsam lässt Cuarón in die bisweilen kammerspielhafte, rein private Welt Cleos die große Politik einsickern. Während sie mit der Familie, die sie auch in der Schwangerschaft unterstützt, in der Stadt ein Babybett kaufen will, werden auf der Straße demostrierende linke Studenten ermordet. Die Protagonisten des Films werden Zeugen des so genannten Fronleichnam-Massakers von 1971, bei dem eine paramilitärische Gruppe namens Los Halcones Dutzende Menschen tötete. Aus Sicht der im Grunde ahnungslosen Hausangestellten zeigt Cuarón, damals erst neun Jahre alt, den "Schmutzigen Krieg" in Mexiko, in dem bis in die 80er-Jahre Tausende linke Studenten, Arbeiter und Bauern umgebracht und gefoltert wurden.

Wie die Oberschicht die Massaker begrüßte und welch patriarchalen Verhältnisse herrschten, illustriert der Film gegen Ende, als die Antonios samt Cleo Silvester auf dem Gut einer reichen US-Familie verbringen und sich die Männer lachend auf die Schulter klopfen: "Deine Frau wird noch der Guerilla beitreten. Sie wird dir die Hacienda wegnehmen." – "Nein vorher verprügel ich sie!" – Klassen- und Geschlechterverhältnisse thematisiert "Roma" ebenso subtil wie deutlich. Dass sich die Kritik daran aus der Erzählung der Geschichte Cleos ergibt und nicht übergestülpt wird, macht den Kern des überragenden Dramas aus.

Mit Blick auf alle Kritiker, die in den (natürlich auf Gewinn ausgerichteten) Bemühungen von Netflix kulturpessimistisch das Ende nahe sehen, muss man wohl Guillermo del Toro ("Shape of Water"), dem Jury-Präsidenten in Venedig in diesem Jahr, zustimmen: "Ich glaube nicht, dass dies der Anfang vom Ende für Irgendetwas ist", sagte der Regisseur, auf Netflix angesprochen. "Es ist eher die Fortsetzung dessen, was vor etwa 100 Jahren mit der Erfindung des Films begonnen hat." "Roma" beweist das eindrücklich.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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